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Regenwassermanagement in der dicht bebauten Stadt

October 11, 2013 | Kaspar Meuli, freier Journalist in Biel-Bienne, Schweiz

Unter dem Titel «Gewässerschutz bei Regenwetter» brachte die dritte Ausgabe des Aqua-Urbanica-Kongresses mehr als 100 Fachleute aus dem deutschsprachigen Raum zusammen. Der Anlass fand an der Eawag in Dübendorf bei Zürich statt und machte unter andrem klar: Es fehlt nicht an Lösungen für einen zukunftsgerichteten Umgang mit Regenwasser, doch sie müssen bereits in die Planung von Stadtentwicklungen einfliessen. Dazu muss ein Dialog zwischen unterschiedlichen Disziplinen in Gang kommen. Denn immer mehr wird Gewässerschutz zur Gemeinschaftsaufgabe für Stadtplaner, Ingenieure und Ökologen.

«Ich bin gespannt, wo ich mein Weltbild nach den kommenden zwei Tagen revidieren muss», sagte Willi Gujer, der Schweizer Pionier der Siedlungswasserwirtschaft am Schluss des Vortrags, mit dem er die Aqua Urbanica 2013 eröffnete. Die launige Bemerkung des ehemaligen ETH-Professors mag viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch den Kongress begleitet haben, denn was genau sich in den vergangenen 30 Jahren, auf die Gujer Bezug nahm, im Gewässerschutz verändert hat, liegt nicht immer auf der Hand.

Alles andere als klar, so zeigten verschiedene Vorträge, ist zum Beispiel immer noch, welches übergeordnete Ziel die Regenwasserbehandlung eigentlich verfolgt. Unterschiede bei den Zielgrössen gibt es nicht zuletzt zwischen den einzelnen Ländern. In Deutschland etwa gelten für alle Gewässer dieselben Vorgaben, und im Vordergrund steht eine emissionsorientierte Betrachtungsweise, die an den Grenzen der technischen Systeme Halt macht. In der Schweiz hingegen gilt seit der Einführung der STORM-Richtlinie 2007 ein immissionsorientierter Ansatz, und die zentrale Frage lautet: Welche Belastung ist für ein bestimmtes Gewässer tragbar?

Doch wie lassen sich solche Belastungsgrenzen festlegen? «Sollen wir uns weiterhin an den Überlebensbedingungen von Fischen orientieren, zum Beispiel mit Grenzwerten für das toxische Ammoniak?», wie es Jörg Rieckermann von der Eawag formulierte, «oder die zulässigen Belastungen in Zukunft an Bachflohkrebsen oder anderen Organismen ausrichten?»

Diskrepanz zwischen Modell und Wirklichkeit

So berichtete Markus Gresch von der Schweizer Beratungsfirma Hunziker-Betatech von einem Fallbeispiel, wo Modellsimulationen die Überschreitung von toxischen Ammoniak-Konzentrationen im Gewässer anzeigten. Allerdings kam es im untersuchten Bach trotz des erhöhten Ammoniak-Gehaltes nicht zu Fischsterben. Dies zeigte einerseits, dass neben der Unsicherheit der Modellrechnungen auch die Unsicherheit bei den Grenzwerten in die Überlegungen miteinbezogen werden sollte. Andererseits müssten die gemäss den Richtlinien als problematisch identifizierten Stoffe nicht zwingend die Ursache für die Beeinträchtigung eines Gewässers sein, so Gretsch. Folglich kommt der gewässerökologischen Untersuchung zur Festlegung des Handlungsbedarfs eine zentrale Bedeutung zu. Ausserdem müssen Modellberechnungen immer interpretiert werden, um nicht falsche Sanierungsmassnahmen vorzuschlagen.

In Bezug auf die heute vorhandenen Modelle, Analyse- und Planungsinstrumente wurden seit den Pioniertagen der Siedlungswasserwirtschaft zweifellos immense Fortschritte gemacht. So war den softwarebasierten Werkzeugen und der Modellierung von Entwässerungssystemen am Kongress ein ganzer Morgen gewidmet. Diverse Beiträge legten den Schwerpunkt auf die Kombination verschiedener Modelle. Harald Sommer vom deutschen Ingenieurbüro Sieker etwa zeigte, wie mittels gekoppelter Vorhersage- und Messdaten Rückhalteräume für Abflussspitzen gesteuert werden können. Und er präsentierte auch gleich eine Webanwendung zur Visualisierung dieser Daten.

Prozesse sinnvoll abbilden

Doch nicht alles modelltechnisch Mögliche bewährt sich in der Praxis. Eine grosse Herausforderung besteht heute darin, die immer breitere Palette von Simulationswerkzeugen richtig einzusetzen. Zuerst muss klar sein, welche Frage es überhaupt zu beantworten gilt. Andreas Matzinger vom Berliner Kompetenzzentrum Wasser forderte: «Prozesse müssen sinnvoll abgebildet werden!» Dazu gehört auch ein transparenter Umgang mit den Unsicherheiten, die den Modellierungen anhaften. Prognosen bei Regen beispielsweise sind immer ungenauer als jene bei trockenem Wetter. Die vorgestellten neuen Methoden und Softwaretools zur Optimierung und zur Unsicherheitsanalyse von Modellrechnungen stiessen denn auch auf grosses Interesse.

Doch eigentlich, so zeigte sich im Verlauf der Aqua Urbanica 2013 immer wieder, fehlt es nicht am Wissen über Gewässerschutz und Regenwassermanagement. «Die meisten Lösungen sind mittlerweile Studienstoff», meinte Max Maurer von der Eawag in seiner Bilanz am Schluss des Kongresses. «Das Problem ist: Was setzen wir wann um? Was ist in welcher Situation trag- und finanzierbar? Und: Bei wem und zu welchem Zeitpunkt müssen optimale Lösungen eingebracht werden?»

Ganz konkret stellen sich diese Fragen zum Beispiel, wenn ganze Stadtquartiere neu gebaut oder verdichtet weiterentwickelt werden. Robert Scheucher von der TU Graz zeigte auf, dass als Folge der zunehmenden Urbanisierung Misch- und Regenwasserkanäle bei Starkniederschlägen immer häufiger bis an die Grenzen ihre Leistungsfähigkeit belastet werden – und darüber hinaus. Als Alternative postulierte Scheucher eine dezentrale Bewirtschaftung des Regenwassers. Unter anderem durch die Abkoppelung von Liegenschaften und Parkflächen vom Kanalisationssystem. Doch dazu müssten finanzielle Anreizsysteme geschaffen werden.

Regenwasser als Identitätsfaktor

Der österreichische Landschaftsarchitekt Karl Grimm hat im Auftrag der Stadt Wien Vorschläge zu naturnaher Oberflächenentwässerung entwickelt. «Zwar versteht sich Wien als Umweltmusterstadt», meinte er, «aber der Umgang mit Niederschlagswässern stand bis vor kurzem kaum im Fokus». Seine Empfehlung an Stadtplaner und Politiker: Regenwassermanagement sollte zum wesentlichen Element einer nachhaltigen Siedlungsentwicklung werden. Und: Das abfliessende Regenwasser solle gestalterisch inszeniert werden. «So wird der Weg des Wassers für die Bewohner zum identitätsstiftenden Merkmal.»

Für viele Ingenieure unter den Kongressteilnehmern waren solche Überlegungen und die damit verbundene Terminologie neu. Und nicht weniger befremdlich mag in manchen Ohren die Forderung des Schweizer Gewässerökologen Fredy Elber geklungen haben. «Die Zeit der 08/15-Lösungen ist vorbei. Die Ingenieure sollten nicht das Gefühl haben, alles selbst in die Hand nehmen zu müssen», warf er bei einem Podiumsgespräch in die Runde. «Probleme interdisziplinär anzugehen, ist spannend und bringt die besseren Lösungen».

Es ist nicht bekannt, ob Willi Gujer, der Pionier der Siedlungswasserwirtschaft nach zwei Tagen Aqua Urbanica etwas an seinem Weltbild korrigieren musste. Doch sicher ist, dass sich in den vergangen 30 Jahren einiges an der Diskussion über Regenwasser und Gewässerschutz verändert hat.