Fisch auf Chips oder wie Kristin Schirmer Tierleben rettet

Beitrag aus dem Infotag-Magazin 2022

Fisch auf Chips – was wie das Nationalgericht der Briten klingt, ist in Wahrheit das Ergebnis einer aussergewöhnlichen Forscherinnenkarriere, die ursprünglich ganz anders geplant war.

Kristin Schirmer, geboren 1967, ist in der ehemaligen DDR in Dresden aufgewachsen. In ihrer Freizeit verbrachte sie viel Zeit in der Natur, besonders an einem kleinen Teich in der Nähe der elterlichen Wohnung. «Das war für mich nichts Spezielles, ich war schon immer gern in der Natur und beschäftigte mich mit Biologie, jagte Kaulquappen und fing Wasserflöhe.» Daneben gab es jedoch noch eine zweite Leidenschaft: den Sport. Und da in der DDR damals Lehrpersonen gesucht waren, lag es nahe, dass Schirmer nach der Schule eine Ausbildung als Sport- und Biologielehrerin in Angriff nahm, zumal sie auch die anspruchsvolle Aufnahmeprüfung für diesen Studiengang bestand.

Es war ein Sportunfall, der den Traum der geplanten Laufbahn als Lehrerin platzen liess. Doch anstatt sich dadurch entmutigen zu lassen, sattelte sie auf ein Biologiestudium um und verfolgte diesen Weg mit demselben Engagement wie zuvor die Lehrerausbildung. Nach der persönlichen Wende kam 1989 die politische: «Trotz schöner Kindheit fühlten wir uns eingeengt, und so war es ein Glück, dass wir den Mauerfall erleben durften.» Schirmer packte so auch die erste Chance, die sich ihr bot, um nach Westdeutschland überzusiedeln: Zusammen mit ihrem Mann, den sie bereits im Gymnasium kennengelernt hatte, zog sie 1991 nach Stuttgart, wo sie ihre Ausbildung an der Uni fortsetzen konnte.

Kanada als Wegweiser

Doch die beiden zog es schon bald weiter: Kanada war ihr nächster gemeinsamer Traum. Mit der ihr eigenen Zielstrebigkeit schaffte es Schirmer, in Waterloo (Ontario) an derselben Uni einen Platz zu ergattern, an der ihr Mann doktorieren wollte – im Labor von Niels C. Bols, einem renommierten Zellbiologen. Bols war es denn auch, der sie lehrte, Zellen von Regenbogenforellen zu isolieren und auf einem Nährmedium wachsen zu lassen, sodass eine Zellkultur entsteht, die sich auf unbestimmte Zeit vermehren lässt. Als Bols ihr dann auch eine PhD-Stelle in seinem Labor anbot, war bald klar, welches Ziel sie in Zukunft verfolgen wollte: die Fischzelllinien verwenden, um Tierversuche zu ersetzen, auch wenn «zu der Zeit niemand glauben konnte, dass dies überhaupt funktioniert», so Schirmer.

Bevor eine Chemikalie auf den Markt gelangt, muss sichergestellt sein, dass sie unbedenklich ist für den Menschen und die Umwelt, zum Beispiel im Wasser lebende Organismen nicht schädigt. Einer der am häufigsten durchgeführten Tests prüft die akute Toxizität für Fische. Dabei setzt man Fische in Aquarien steigenden Konzentrationen von Chemikalien aus und beobachtet, wie schnell sie sterben. Millionenfach kommen Fische so jährlich zu Tode – ein nicht nur für Schirmer unhaltbarer Zustand.

Verdienst vieler Personen

Was eher als Zufall begann, wurde für Schirmer deshalb zur Passion. Auch als Postdoc (in Kanada und Leipzig), als Leiterin der Abteilung Zelltoxikologie (Leipzig) und seit 2008 als Leiterin der Abteilung Umwelttoxikologie an der Eawag setzte sie alles daran, einen Toxizitätstest zu entwickeln, der anstelle von Fischen deren Zelllinien verwendet. 2016 gründete Schirmer zusammen mit anderen Fachleuten «aQuaTox-Solutions»: Ein Spin-off der Eawag, das die Zelllinien-Testmethode erstmals kommerziell anbot, und damit auf breites Interesse in der Industrie stiess. Der ganz grosse Durchbruch gelang Schirmer und ihrem Team 2019, als die Internationale Organisation für Normung den Test als «ISO-Standard» genehmigte. Zwei Jahre später folgte die ultimative Krönung: Die OECD gab grünes Licht für den Fischzelllinientest. Damit können Unternehmen und Behörden auf der ganzen Welt nun die Umwelttoxizität von Chemikalien bestimmen, ohne auf Tierversuche zurückgreifen zu müssen. «Wir sind extrem froh, dass wir dies geschafft haben und die Eawag uns dabei immer voll unterstützt hat», sagt Schirmer. «Dass wir in den letzten Jahren so erfolgreich waren, ist das Verdienst von sehr vielen Personen. Wir haben es trotz zeitweiligem Widerstand immer irgendwie geschafft, auf diesem Gebiet weiterzuarbeiten, und das zahlt sich jetzt aus.»

Zellen einer Kiemenzelllinie der Regenbogenforelle (RTgill-W1) vergrössert (blau: angefärbter Zellkern, rot: Zytoplasma)
(Bild: Sven Mosimann und Barbara Jozef, Eawag)

Noch viele Ziele vor sich

Es sind diese Beharrlichkeit, gepaart mit Mut und Flexibilität sowie das Vertrauen in ein grosses Netzwerk, die Schirmer dahin gebracht haben, wo sie jetzt ist. Aber auch die Gewissheit, für eine gute Sache zu kämpfen. Allgemein ist es ihr wichtig, über das tägliche Handeln nachzudenken und darüber, wie wir nachhaltiger leben können. Deshalb hat sie sich zum Beispiel dafür entschieden, vegetarisch zu leben. «Für mich hängt das alles zusammen und ist deshalb auch Lebensstil.» Diese globale Sicht der Dinge vermittelt sie auch bei ihrer Lehrtätigkeit an Studierende – ebenso wie an ihre zwei eigenen Kinder, die inzwischen selbst studieren. Dass ihr die ursprüngliche Leidenschaft fürs Unterrichten nicht abhandengekommen ist, zeigt der Preis, den ihr Studierende der EPFL 2021 für ihr Engagement als Professorin verliehen haben.

Doch auf den Lorbeeren auszuruhen, ist nicht ihre Sache. Sie hat noch viele Ziele, die sie beruflich erreichen möchte. Besonders wichtig ist ihr, dabei den Blick für die Praxis nicht zu verlieren: «Ich habe über die letzten Jahre gelernt, dass wir als Naturwissenschaftler und Naturwissenschaftlerinnen oft das Gefühl haben, die Daten sprächen für sich und alles sei doch logisch. Doch das funktioniert so eben nicht. Wir sollten von Anfang an die Stakeholder miteinbeziehen und zusammen überlegen, welche Eckpunkte ihnen wichtig sind, und was wir zusammen bewirken können.»

Chip mit sechs Kanälen (links), in welche die Zellen eingesät werden (rechts). Kleine Kreise auf dem Chip stellen die Elektroden dar, welche den Widerstand der Zellen messen. (Bilder: Jenny Maner, Eawag)

Mit zuvorderst auf der Agenda steht nun auch der Fisch auf Chips: Im Labor ist es einem Eawag-Team aus Forschenden sowie Technikerinnen und Technikern bereits gelungen, Fischzellen auf Mikrochips wachsen zu lassen, die mit Elektroden versehen sind. Damit lässt sich der Widerstand der Zellen messen, der wiederum anzeigt, wie gut es den Zellen geht. Als nächstes wollen die Forschenden diese Biosensoren ins Feld bringen, um direkt im Fluss oder See zu untersuchen, wie giftig das Wasser ist. Auf der Plattform LéXPLORE am Genfersee haben bereits erste Tests stattgefunden. «Bisher gibt es allerdings noch viele Probleme, wir sind erst in der Entwicklung. Wir arbeiten daran, dass wir demnächst die toxische Belastung für die Zellen auf dem Smartphone live mitverfolgen können, ohne ein einziges Fischleben zu gefährden.» Wer Kristin Schirmer kennt, zweifelt nicht daran, dass sie auch dieses Ziel erreichen wird.

Erstellt von Christine Huovinen für das Infotag-Magazin 2022