Abteilung Umweltsozialwissenschaften
Entscheidungsanalyse (DA)
Ziel dieser Gruppe ist ein besseres Verständnis von schwierigen Entscheidungen sowie die Unterstützung von realen Entscheidungsprozessen. Die Gruppe nutzt Wissen aus den Ingenieur- und Naturwissenschaften um zur Lösung von gesellschaftlich relevanten Problemen beizutragen. Der thematische Schwerpunkt liegt in der Siedlungswasserwirtschaft und der Erhaltung von natürlichen Wasserressourcen.
«Schwierige Entscheidungen» sind komplex weil die Entscheider in der Regel mehrere – zum Teil sich widersprechende – Ziele erreichen möchten. Ein Ziel könnte zum Beispiel ‚tiefe Kosten’ sein und ein anderes Ziel die ‚Einführung der besten technischen Massnahme’, welche zugleich aber auch die teuerste sein könnte. Bei realen Entscheidungssituationen sind zudem oft mehrere Akteure mit unterschiedlichen Interessen beteiligt. Die Komplexität wird zusätzlich durch Unsicherheit erhöht, zum Beispiel weil die längerfristigen Konsequenzen einer Entscheidung unklar sind.
Was ist die Multikriterielle Entscheidungsanalyse (MCDA)?
Schwierige Entscheidungen
Entscheidungsprobleme können schwierig sein, wenn die Entscheidungsträger mehrere kontroverse Ziele zu erreichen hoffen. Zum Beispiel könnte ein Ziel ‚niedrige Kosten’ sein und ein anderes Ziel ‚hohe Umweltverträglichkeit’. Die technisch umweltverträglichste Lösung könnte allerdings auch die teuerste sein. An Umweltentscheidungen sind gewöhnlich mehrere Akteure mit unterschiedlichen Interessen und Werten beteiligt. Ungewissheit zum Beispiel über die längerfristigen Konsequenzen von Entscheidungen erhöhen die Komplexität weiter.
Die Multikriterielle Entscheidungsanalyse (MCDA von ‚Multi-Criteria Decision Analysis‘) unterstützt das systematische Denken, um das Entscheidungsproblem zu strukturieren und die Präferenzen und Werte der Betroffenen zu verstehen. Sie versucht, alle verfügbaren Informationen zu integrieren: wissenschaftliche Daten und ‚harte Fakten’ zusammen mit den subjektiven Präferenzen der Akteure. Sie verbessert den Entscheidungsprozess durch Erhöhung der Transparenz. Ihr Ziel ist die optimale Entscheidung, die bei allen Parteien auf hohe Akzeptanz stösst.
Gute Entscheidungsprozesse auf der Basis der Multikriteriellen Entscheidungsanalyse (MCDA)
Vorhersagen
Die Multikriterielle Entscheidungsanalyse (MCDA) analysiert ‚harte Fakten’, d.h. Vorhersagen über die Konsequenzen der Wahl einer spezifischen Entscheidungsoption. Wenn beispielsweise Ingenieure zwischen verschiedenen Abwasserbehandlungstechnologien wählen müssen, ist es für sie wichtig, zu wissen, wie gut Nährstoffe oder Mikroverunreinigungen entfernt werden, und wie viel jede der Optionen kostet. Für fundierte Vorhersagen über die Ergebnisse verschiedener Entscheidungsoptionen können Modellierungstechniken oder Expertengutachten herangezogen werden.
Ungewissheit
Vorhersagen sollten Ungewissheiten wie etwa einen Mangel an wissenschaftlichen Erkenntnissen einbeziehen. Zum Beispiel kann es sein, dass man nicht exakt weiss, wie ein Ökosystem auf eine Managementintervention reagiert. Vorhersagen sind auch wegen Vereinfachungen in den verwendeten Modellen ungewiss, oder weil Expertenurteile unsicher sind. Über längere Zeiträume wächst die Ungewissheit, weil die Zukunft unbekannt ist. In solchen Fällen kann es hilfreich sein, eine Szenarienplanung mit MCDA zu kombinieren, um verschiedene mögliche Zukunftsverläufe zu betrachten.
Problemstrukturierung
Die MCDA analysiert auch ‚weiche Daten’, d.h. die Präferenzen der Entscheidungsträgerinnen und der Akteure. Ein guter Entscheidungsprozess gewährleistet, dass die wichtigen Akteure und die von der Entscheidung betroffenen Personen einbezogen werden. Es kann nützlich sein, Teilnehmer mit einer Akteurs-Analyse auszuwählen, die zur grossen Familie der Problemstrukturierungsmethoden (PSM) gehört. Solche Methoden können auch helfen, zu gewährleisten, dass die Entscheidungssituation richtig verstanden wird, bevor MCDA eingesetzt wird, und dass die Hauptziele aller betroffenen Personen und wenn möglich die mutmasslichen Interessen künftiger Generationen in Betracht gezogen werden.
Präferenzen
Menschen haben unterschiedliche Wertsysteme und bei einer Entscheidung daher unterschiedliche Präferenzen. Dies hat insbesondere einen Einfluss darauf, wie Menschen die Bedeutung von Zielen wahrnehmen, und wie sie unter Ungewissheit entscheiden. Wenn nicht alle Ziele erreicht werden können, müssen Kompromisse zwischen widersprüchlichen Zielen gemacht werden. Präferenzerhebungsmethoden helfen beispielsweise, abzuklären, wie wichtig die Erreichung eines Ziels ist, und wie gut dieses gegen ein anderes Ziel austauschbar ist. Wenn zum Beispiel der ökologische Wert eines Flusses für eine gefährdete Vogelart verbessert werden soll, kann dies bedeuten, dass die Bevölkerung nicht mehr am Flussufer picknicken darf. Solche Kompromisse beruhen auf den best- und schlimmstmöglichen Fällen für jedes Ziel im Hinblick auf das spezifische Entscheidungsproblem (z. B. die Kosten der billigsten und teuersten Option oder die benutzerfreundlichste/-unfreundlichste Technologie). Präferenzerhebungsprozesse (Interviews oder Gruppen-Workshops) sind anspruchsvoll, weil die Menschen beim Beantworten unserer Fragen systematisch zu Voreingenommenheiten neigen. Möglicherweise sind sie auch unsicher über ihre Antworten, und sie können risikoscheu sein, wenn die Ergebnisse einer Entscheidung (d.h. die Vorhersagen) unsicher sind.
MCDA-Modellierung und Resultate
Präferenzerhebungsmethoden erfassen die Präferenzen der Entscheidungsträger in Zahlen. Diese Präferenzparameter gehen zusammen mit den ‚harten Fakten’, den Vorhersagen, in das Entscheidungsanalysemodell ein. Das Resultat des MCDA Modells ist ein Ranking der Entscheidungsoptionen von der besten zur schlechtesten. Falls mehrere Akteure interviewt wurden, kann für jeden Akteur ein anderes Ranking resultieren. Ausserdem können manche Entscheidungsoptionen unsicherer sein als andere. Der MCDA Prozess hilft, gute Kompromissoptionen auszuwählen, die trotz Ungewissheiten für alle Akteure einigermassen gute Ergebnisse liefern. MCDA sollte als iterativen Prozess angesehen werden und ist oft nützlich, um aufgrund der Erkenntnisse aus dem Prozess neue Entscheidungsoptionen zu konstruieren. Zudem ist es sehr nützlich, die Resultate der MCDA mit den Akteuren zu diskutieren.
Forschungsthemen und -methoden
Ein wichtiger Forschungsschwerpunkt des Clusters Entscheidungsanalyse ist die Frage, wie man mit der hohen Komplexität in realen Umweltentscheidungen besser umgehen kann, ohne ungerechtfertigte Kompromisse an die wissenschaftliche Genauigkeit zu machen. Viele Forschungsfragen wurden in der Multikriteriellen Entscheidungsanalyse (MCDA) mit gut definierten Entscheidungsproblemen angegangen. In der realen Welt sind Entscheidungen eher komplex und unklar, es sind viele Akteure beteiligt und eine Reihe von Ungewissheiten zu berücksichtigen.
Unsere Forschung zielt darauf ab, die Umsetzbarkeit und die Zuverlässigkeit des gesamten Entscheidungsprozesses zu verbessern. Dies bezieht alle Schritte der MCDA (s. ‘Was ist MCDA?’) ein. MCDA ist ein Überbegriff für eine Vielzahl von Methoden; wir konzentrieren uns auf die Wert- und Nutzentheorie, die sogenannte ‚Multi-Attribute Value Theory‘ (MAVT) und die ‚Multi-Attribute Utility Theory‘ (MAUT).
Wir entwickeln unsere Forschung in angewandten Projekten der realen Welt. Entscheidungsträgerinnen und Akteure sind stark in die verschiedenen Schritte des Entscheidungsprozesses einbezogen. Unser transdisziplinärer Ansatz ist auch für unsere Fallstudienpartner nützlich: Dank unserer Forschung gewinnen sie mehr Einblick in ihr schwieriges Entscheidungsproblem.
Forschungsgegenstände und einige Forschungsfragen
Problemstrukturierung (‚Framing‘)
Die Strukturierung des Entscheidungsproblems wirkt sich stark auf das Ergebnis der MCDA aus. Das Ziel ist, alle relevanten Aspekte und wichtigen Akteure einzubeziehen und den Entscheidungsprozess im Hinblick auf die Bewältigung des jeweiligen Umweltproblems optimal zu strukturieren. Einige Forschungsfragen sind:
- Wie ist MCDA am besten mit Problemstrukturierungsmethoden (PSM; z. B. Akteurs-Analyse, Szenarienplanung, kognitives Mapping, Strategy Generation Table, SWOT-Analyse, Soft Systems Methodology) zu kombinieren?
- Systematisierung und Anleitung für Best Practices beim Aufsetzen des Entscheidungsproblems.
- Welche guten Möglichkeiten gibt es, um Zielhierarchien zu strukturieren; was sind die Vor- und Nachteile, wenn man die Komplexität reduziert?
- Welche Attribute (‚Indikatoren‘) sind geeignet, um die Konsequenzen von Optionen wissenschaftlich präzis und zugleich für die Akteure nachvollziehbar zu messen?
Ungewissheit
Es gibt verschiedene Quellen für Ungewissheit: Ungewissheit über (i) Randbedingungen, z. B. zukünftige sozioökonomische Entwicklung, (ii) korrekte Strukturierung von Entscheidungsproblemen (s. oben), (iii) die Voraussagen (wissenschaftliche / von Experten), (iv) Präferenzen der Entscheidungsträger und (v) Präferenzen für Entscheidungen unter Risiko.
- Wie lassen sich Zukunftsszenarien bei der MCDA-Präferenzerhebung und -modellierung am besten einbeziehen? Wie lassen sich die Präferenzen der Entscheidungsträgerin erheben, wenn verschiedene Zukunftsverläufe möglich sind?
- Wie können wir über die Zeit Entscheidungen treffen, wenn künftige Entwicklungen in hohem Grad ungewiss sind?
- Wann sollten wir in einer bestimmten Entscheidung Forschungsanstrengungen auf die Ungewissheit von Vorhersagen konzentrieren? Wie stark beeinflussen veränderte Annahmen (Sensitivitätsanalysen) die Folgen einer Entscheidung?
- Wie können wir Expertengutachten verwenden, um Voraussagen zu machen, wenn die Folgen eines Ziels schwierig zu modellieren und/oder in hohem Grad ungewiss und/oder schwierig zu verstehen sind?
- Wie können wir von Akteuren auf praktikable und verständliche Weise Nutzenfunktionen für Entscheidungen unter Risiko erheben?
Präferenzerhebung
Ein Hauptziel der Gruppe Entscheidungsanalyse besteht darin, besser anwendbare, vereinfachte Erhebungsverfahren zu finden, die sich ohne Weiteres auf komplexe Umweltentscheidungsprobleme anwenden lassen. Eine vereinfachte Erhebung wird helfen, Forschungserkenntnisse in die Praxis zu übertragen und die Anwendung von MCDA in der realen Welt zu erweitern. Aus der psychologischen Forschung ist allerdings wohl bekannt, dass Menschen gern zu Voreingenommenheiten neigen und gegen die axiomatischen Grundlagen der MAVT / MAUT verstossen. Auch können sich Präferenzen im Laufe der Zeit und aus zahlreichen Gründen ändern.
International ist ‚Behavioral Operations Research‘ (BOR) zu einem wichtigen Thema geworden. Mit unserer Forschung wollen wir zu diesem Feld beitragen. Wir arbeiten deshalb an der Entwicklung von Erhebungsverfahren, die Voreingenommenheiten vermeiden oder sie ausgleichen, die leicht anwendbar und verständlich, zuverlässig und vertrauenswürdig sind. Typische Forschungsfragen sind:
- Welches sind die besten Methoden, um Wertfunktionen einzelner Attribute und Gewichte (oder Skalierungskonstanten) zu erheben? Wie können wir Entscheidungsträgern während der Erhebung helfen (z. B. visuelle und verbale Darstellung, indirekte oder direkte Erhebung)?
- Welche Aggregationsmodelle stellen die Präferenzen der Menschen besser dar, wenn das additive Modell ungeeignet ist? Wie können wir die Modellparameter erheben?
- Können wir die Interaktion mit den Akteuren effektiv vermindern, indem wir die Modellierungsbemühungen zu Beginn der MCDA intensivieren?
- Wie können wir mit Ungewissheit umgehen (s. oben): Risikoeinstellungen und Präferenzen bei verschiedenen Zukunftsszenarien erheben und mit der Unsicherheit von Entscheidungsträgerinnen über ihre eigenen Präferenzen umgehen?
- Wie stabil sind Präferenzen über die Zeit? Was folgt daraus für reale Entscheidungen?
- Wie fällt der Vergleich einer Erhebung im Interview mit schnelleren Erhebungsprozessen aus (z. B. Bevölkerungsbefragung, Entscheidungsfindung in einer Gruppe)?
Methoden
Datensammlung
- Literaturanalyse
- Expertenbefragung
- Anwendung und Entwicklung von Modellen für Vorhersagen
- Workshops zur Strukturierung von Entscheidungsproblemen
- Erhebung von Präferenzen mit persönlichen Interviews, Gruppenworkshops, (online) Umfragen, Experimenten
- Evaluation des Prozesses, z. B. mit Fragebogen
Datenanalyse
- Multikriterielle Entscheidungsanalyse (MCDA), spezifisch Wertetheorie (Multi-Attribute Value Theory, MAVT) und Nutzentheorie (Multi-Attribute Utility Theory, MAUT); Fokus auf Flexibilität (z. B. verschiedene Aggregationsmodelle) und Unsicherheit (z. B. globale Sensitivitätsanalyse)
- Problemstrukturierungsmethoden (Problem Structuring Methods, PSM), z. B. Akteurs-Analyse, Szenarienplanung, kognitives Mapping, Strategy Generation Table, SWOT-Analyse)
- Vorhersagen: Expertenwissen, Modellierungen und Kombinationen (Bayes’sche Netzwerke)
- Literatur Reviews
- Statistische Analysen (z. B. Regressionsmodelle)
Inter- und transdisziplinäre Forschung
Die Gruppe Entscheidungsanalyse arbeitet eng mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern anderer Disziplinen an der Eawag zusammen (Ingenieure, Chemikerinnen, Ökotoxikologinnen und andere Sozialwissenschaftler der Abteilung ESS) sowie mit Akteuren in den angewandten Projekten.
Einführung in die MCDA. Interview mit Judit Lienert
Aktuelle Projekte
Entscheidungsanalyse Werkzeuge
Abgeschlossene Projekte
Team
Publikationen
Bitte beachten: viele der Publikationen könnten auch anders zugeordnet werden. Wir haben sie derjenigen Kategorie zugewiesen, für die sie vermutlich am relevantesten ist.
Strukturierung Entscheidungsproblem: Ziele, Optionen, Szenarien, Akteursanalyse
Umweltfolgenabschätzung und Leistungsbeurteilung
Erhebung und Modellierung von Präferenzen
Multi-kriterielle Entscheidungsanalyse: Konzepte, Methoden, Unsicherheit
Lienert, J. (2022) App helps with difficult decisions (App hilft bei schwierigen Entscheiden). Interview by Barbara Vonarburg with Judit Lienert, Eawag News, April 2022.
Multi-kriterielle Entscheidungsanalyse: Anwendungsbeispiele
Andere Methoden für Entscheidungsunterstützung
Auszeichnungen
2020
Haag, F., Reichert, P., Maurer, M., Lienert, J. Decision Analysis Society (DAS) of INFORMS Student Paper Award 2020 for the paper: Integrating uncertainties of preferences and predictions in decision models: An application to regional wastewater planning. Journal of Environmental Management 252: 109652.
Paper: https://doi.org/10.1016/j.jenvman.2019.109652.
Award: https://www.informs.org/Recognizing-Excellence/Community-Prizes/Decision-Analysis-Society/DAS-Student-Paper-Award.
2019
Haag, F., Lienert, J., Schuwirth, N, Reichert, P. OMEGA Best Paper Award 2019: Identifying non-additive multi-attribute value functions based on uncertain indifference statements. OMEGA 85: 49-67.
Paper: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0305048317308204.
Award: http://www.omegajournal.org/authors.html.
2019
Marttunen, M., Lienert, J., Belton, V. EURO Award for the Best EJOR Paper. Review: Structuring Problems for Multi-Criteria Decision Analysis in practice: A literature review of method combinations. Association of European Operational Research Societies, 30th EURO Conference, Dublin, Ireland, 26.06.2019.
Paper: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0377221717303880?via%3Dihub.
Award: https://www.euro-online.org/web/pages/1647/eabep-winners-2019.
Lehre
ETH Zürich, Departement Umweltsystemwissenschaften
- Multi-Criteria Decision Analysis, Kurs 701-1522-00, jährlich im Frühjarssemester
ETH Zürich, Institut für Umweltingenieurwissenschaften, Professur für Ökologisches Systemdesign
- Gastvorlesung zu MCDA in: Advanced Environmental Assessments, Kurs 102-0317-00, jährlich im Herbstsemester