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App hilft bei schwierigen Entscheiden
20. April 2022 |
«ValueDecisions» heisst das neue Werkzeug von Judit Lienert und ihrer Forschungsgruppe, die sich am Wasserforschungsinstitut Eawag mit Entscheidungsanalysen befasst. Die Web-App nimmt den Nutzerinnen und Nutzern die komplizierte Programmierarbeit ab, die es bisher für eine professionelle Entscheidungsfindung brauchte. «Wir verwenden eine Methode, die man ‘Multikriterielle Entscheidungsanalyse’ nennt, erklärt Lienert: «Dies ist im Prinzip eine Kosten-Nutzen-Analyse; allerdings geht es dabei nicht nur um möglichst tiefe Kosten, sondern um eine breite Palette von Zielen, und die Entscheide betreffen viele Beteiligte mit widersprüchlichen Interessen, sodass sich eine gute Wahl nicht bloss mit gesundem Menschenverstand treffen lässt.» Im Fachjargon heisst die Methode MCDA, kurz für «Multi-Criteria Decision Analysis».
Die ValueDecisions-App berechnet und visualisiert die Ergebnisse der MCDA in übersichtlichen grafischen Darstellungen und Tabellen. «Man sieht auf den ersten Blick, welche Optionen für welche Akteure am besten sind und wo ein Kompromiss möglich ist», sagt die Umweltsozialwissenschaftlerin und Biologin. Während im Hintergrund ein Skript mit komplexer Programmierung läuft, ist die Schnittstelle sehr benutzerfreundlich: Man muss nur zwei Excel-Tabellen heraufladen. «Allerdings sollte man eine Ahnung von Problemstrukturierung und MCDA haben, um die nötigen Daten für diese beiden Tabellen zu erheben», erklärt die Forscherin.
Deshalb richtet sich ValueDecisions vor allem an Fachleute, beispielsweise in Ingenieurbüros, auf Gemeinden oder in der Forschung, und nicht an die Öffentlichkeit. «Aber man kann die App natürlich auch mit persönlichen Entscheidungsproblemen füttern», sagt Lienert, «zum Beispiel wenn man die optimale Destination für Familienferien finden will.» So lässt sich erkunden, welches von vielen möglichen Ferienzielen den Wünschen jedes einzelnen Familienmitglieds am meisten entgegen kommt, und welches der beste Kompromiss ist.
Abwasserreinigung in Paris
In der Forschungspraxis hat sich ValueDecisions bereits mehrfach bewährt. So untersuchte Lienerts Gruppe, wie sich das Abwasser in der Region Paris künftig am besten reinigen liesse. Die bestehende, grosse Kläranlage erreicht ihre Kapazitätsgrenzen, weil die Bevölkerung ständig wächst und der Klimawandel die Verdünnung des Klärwassers erschwert. «Wir wurden angefragt, ob man alternative Abwasserreinigungsmethoden in Betracht ziehen kann», erzählt Lienert. In einem Workshop mit lokalen Fachleuten wurden Umweltziele sowie sozioökonomische Ziele aufgestellt und in der Folge fünf Optionen ausgewählt, darunter dezentrale Optionen mit Urin- und Fäkalienseparation sowie Trockentoiletten. Diese Auswahl bildete die Grundlage für eine Umfrage bei 655 Personen aus der Region, die ihre Wünsche und Präferenzen angeben konnten.
In einem Workshop in Paris erarbeiteten lokale Fachleute zusammen mit Eawag-Forschenden Ziele und Optionen für die Sanierung der Abwasserinfrastruktur – den Input für die ValueDecisions-App.
(Foto: Judit Lienert)
Was eine gute Urin- und Fäkalienentsorgung bei Neubauten im Grossraum Paris auszeichnet. Die roten und grünen Punkte bedeuten aus Sicht der am Workshop teilnehmenden Fachpersonen, dass das jeweilige Ziel besonders wichtig bzw. eher unwichtig ist.
(Foto: Judit Lienert)
Dann kam die ValueDecisions-App zum Zug. Sie integriert automatisch Fakten und Präferenzen in ein mathematisches Modell und zeigt, wie die verschiedenen Optionen abschneiden. Dabei lassen sich auch Unsicherheiten quantifizieren, und die Robustheit der Ergebnisse können mit verschiedenen, interaktiven Sensitivitätsanalysen untersucht werden. Die Ergebnisse dieser Analyse wurden jetzt veröffentlicht. «Interessanterweise schneiden die neuen Optionen besser ab als der Status quo», sagt Lienert.
Grafik von ValueDecisions zu fünf verschiedenen Optionen der Abwasserentsorgung in Paris (x-Achse). Wie gut jedes Teilziel erreicht wird, ist mit farbigen Blöcken dargestellt (A_Umweltschutz, B_Ressourcennutzung, C_Soziales Wohlergehen, D_Wirtschaftliche Leistung). Je nach Geisteshaltung (Preservationists, Utilitarians) erreichen die Optionen die Teilzeile und das Gesamtziel unterschiedlich gut (Werte von 0 – 1 auf y-Achse). Der Status quo, die herkömmliche Kläranlage, schneidet aber immer deutlich schlechter ab als ein dezentrales Vakuum-System mit Urinseparierung und Trockentoiletten mit unterirdischen Kompostkammern vor Ort.
(Grafik: Judit Lienert)
Zu einem ähnlichen Resultat kam eine Studie in ländlichen Gebieten des Kantons Solothurn. In mehreren Workshops diskutierten die Eawag-Forschenden mit der lokalen Bevölkerung die Vor- und Nachteile einer dezentralen Abwasserinfrastruktur gegenüber einer herkömmlichen Kläranlage und erstellten daraus eine MCDA zum Teil mit Hilfe der neuen App. Auch hier schnitten die Trockentoiletten in einem Fall sehr gut ab sowie weitere dezentrale Optionen wie Kleinkläranlagen. «Und die Workshop-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer in einer Gemeinde waren sehr offen für die dezentralen Lösungen», erzählt Lienert.
Überflutungswarnung in Westafrika
Die App leistete zudem gute Dienste bei der Erstellung eines Vorhersagesystems für ganz Westafrika, um vor Hochwasser zu warnen. Am EU-Projekt namens FANFAR beteiligte sich auch die Eawag. Während andere Partner sich um die technischen Aspekte kümmerten, eruierten die Schweizer Forschenden in Workshops die spezifischen Bedürfnisse und Präferenzen der afrikanischen Fachleute für Hydrologie und Katastrophenschutz. Eine MCDA mit Hilfe der App lieferte interessante Resultate. So forderten einige Fachleute anfänglich, dass die Prognosen in sämtliche westafrikanischen Sprachen übersetzt werden, verzichteten dann aber auf dieses zeitaufwändige Prozedere, um das Hauptziel nicht zu gefährden: eine möglichst schnelle und präzise Generierung der Warnmeldungen.
Welche Ziele muss ein Prognosesystem zur Warnung vor Hochwasser erfüllen? In Westafrika erarbeiteten Fachleute für Hydrologie und Katastrophenschutz die Grundlagen für eine Multikriterielle Entscheidungsanalyse.
(Foto: Judit Lienert)
«Wir haben unsere App für komplexe Entscheide erstellt, bei denen es viele Beteiligte und Unsicherheiten gibt», sagt Lienert und hofft, dass das praktische Werkzeug schon bald von möglichst vielen Fachleuten genutzt wird. Wer ValueDecisions einsetzen möchte, findet auf der entsprechenden Web-Site eine Benutzeranleitung und ein Beispiel, welches das Vorgehen Schritt für Schritt erklärt.
Titelbild: App «Value Decision» unterstützt Fachleute bei komplexem Entscheidungen (Foto: Fridolin Haag, Eawag, und cottonbro)