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Biomassenproduktion in Seen wird einfacher bestimmbar
19. April 2021 |
«Baden verboten» hiess es noch bis in die 1980er Jahre an vielen Schweizer Seeufern. Den Seen ging damals buchstäblich die Luft aus: sie waren verschmutzt, überdüngt und manche, wie der Baldegger- oder der Hallwilersee, mussten künstlich belüftet werden, weil die Zersetzung der Biomasse im Tiefenwasser den gesamten Sauerstoff zehrte und die Seen in lebensfeindliche Orte verwandelte. Auch wenn sich seither dank besserer Abwasserreinigung, Phosphor-Verbot in Waschmitteln und strengerer Massnahmen in der Landwirtschaft sehr vieles getan hat, ist der Sauerstoffgehalt vieler Schweizer Seen nach wie vor ungenügend. Es zeigt sich, dass weniger Phosphor nicht automatisch weniger Biomasse bedeutet – die Zusammenhänge in den Seen sind komplexer als angenommen.
Wie komplex, das hat eine Forschungsgruppe der Eawag und der EPFL über mehrere Jahre gemeinsam untersucht. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben den Kreislauf des organischen Kohlenstoffs, der aus der Biomasse hervorgeht, unter die Lupe genommen. «Wir konnten anhand der Sauerstoffzehrung und Prozessen im Sediment quantifizieren und aufschlüsseln, wie viel organischer Kohlenstoff in den Seen produziert wird», sagt Beat Müller von der Abteilung Oberflächengewässer an der Eawag. Basierend auf diesen Erkenntnissen hat das Forschungsteam eine Methode entwickelt, mit der sich einfach abschätzen lässt, wie gross die Biomassenproduktion in einem See ist und wie sich diese in der Vergangenheit entwickelt hat.
Vorgänge in der Tiefe sind entscheidend
Am Anfang des Kohlenstoffkreislaufs in einem See steht das Phytoplankton, das im nährstoffreichen, lichtdurchfluteten Oberflächenwasser lebt und Photosynthese betreibt. Diese Organismen nehmen Nährstoffe und CO2 auf, bauen daraus organisches Material auf und geben Sauerstoff ab. Die dadurch entstehende Biomasse wird als Primärproduktion bezeichnet. Sterben Algen und Plankton ab, sinkt ein Teil der toten Biomasse ins Tiefenwasser ab. Diese sogenannte Netto-Ökosystemproduktion – also die Menge an organischem Kohlenstoff, die in die tiefe Schicht gelangt – ist entscheidend für den Sauerstoffhaushalt eines Sees. Denn für die Zersetzung des organischen Materials entziehen die Bakterien dem Wasser Sauerstoff.
Der Abbau erfolgt teilweise noch in der Wassersäule, teilweise erst später, wenn das organische Material bereits am Grund abgelagert ist. Fehlt der Sauerstoff, werden beim Abbauprozess im Sediment Methan und Ammonium gebildet. Diese Substanzen oxidieren, sobald wieder Sauerstoff vorhanden ist. Seen mit einer eutrophen Vergangenheit, die viele solcher «Altlasten» im Sediment haben, verlieren durch deren zeitlich verzögerten Abbau also noch über viele Jahre hinweg Sauerstoff.
Die Vergangenheit wird messbar
Ausgehend von diesen Prozessen und im Hinblick auf unterschiedliche Seetypen, haben die Forscher eine neue Methode entwickelt, um die Netto-Ökosystemproduktion abzuschätzen. Im Prinzip ist es eine einfache Gleichung: Die jährliche Netto-Ökosystemproduktion ist die Summe des organischen Materials, das langfristig im Sediment eingelagert, und des organischen Materials, das im Tiefenwasser abgebaut wird. Beide Werte sind für die meisten Schweizer Seen bekannt: Auf die Sedimentationsmenge kann man aus Sedimentproben schliessen, der Kohlenstoffabbau lässt sich aus den Sauerstoffmessungen, die von den Kantonen mindestens seit den 1980er Jahren systematisch durchgeführt werden, ableiten.
Gegenüber anderen, direkten Messverfahren der Netto-Ökosystemproduktion hat die neue, indirekte Methode entscheidende Vorteile, sagt Müller. «Sie ist viel weniger aufwändig, zuverlässiger und vor allem erlaubt sie, weil sie auf den bestehenden Sauerstoffmessreihen basiert, eine Rekonstruktion der vergangenen Verhältnisse.» So lässt sich also auch rückblickend analysieren, wie sich die Biomasse eines Sees entwickelt hat. «Die neue Methode ermöglicht es den Verantwortlichen in den Kantonen, den Zustand der Seen differenzierter zu beurteilen und die Wirkung der bisher getroffenen Schutzmassnahmen zuverlässiger zu bewerten.» Die Zeiten, in denen im Trüben gefischt wurde, könnten also bald vorbei sein, die Seen werden – buchstäblich – transparenter.
Originalpublikationen
Titelbild: Eawag, Beat Müller
Finanzierung
Die Studie wurde vom BAFU in Auftrag gegeben und finanziert. Drei Forschungsarbeiten dazu wurden vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt (200021_146652; 200020_165517; 200021_146234).