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Der Einfluss der Abwesenden
3. Juli 2019 |
Am liebsten fressen Hechte in seichten dänischen und schwedischen Seen Rotaugen. Sieben von zehn Fischen, die Forschende in den Mägen der Hechte fanden, waren Rotaugen – im Winter eher noch mehr. Allerdings waren die Rotaugen, welche die Hechte in Seen mit Zu- oder Abflüssen gefressen hatten, im Winter kleiner, und die Hechte wurden im Laufe des Winters etwas magerer. Anders ihre Artgenossen in isolierten Seen: Ihre Kondition blieb das ganze Jahr über etwa gleich.
Das hat ein internationales Forschungsteam um Jakob Brodersen von der Eawag an je vier seichten Seen mit und ohne Verbindung zu Fliessgewässern untersucht. Die Resultate entsprechen den Erwartungen der Forschenden. Denn in den „offenen" Seen wandert jeweils ein Teil der Rotaugen im Winter in die Zu- oder Abflüsse aus – vor allem die grössten Tiere aus Schwärmen, die im offenen Wasser leben. Während der Abwesenheit dieser grossen Rotaugen fangen die Hechte ufernahe Beute, also besonders kleinere Rotaugen. "In diesen Seen ändern sich die Wege, auf denen Nahrung und Energie durch das Seeökosystem fliessen – von den Algen bis zu den Hechten", stellt Brodersen fest. Kehren die grossen Rotaugen im Frühling aus den Flüssen zurück, beginnt für die Hechte ein "Fest": Sie legen schnell wieder Gewicht zu und werden bald sogar noch dicker als ihre Artgenossen in den isolierten Seen.
Abwanderungs-Effekte
Mit der Teilwanderung können sich die grössten und fittesten Rotaugen, die auch eine längere Zeit in den nahrungsarmen Bächen gut überstehen, im Winter vor den Hechten in Sicherheit bringen. So steigt die Chance, dass sie sich im Frühling fortpflanzen können. Zugleich steigt aber auch die Aussicht der Hechte auf fette Beute im Sommer. Diese Effekte entstehen praktisch ausschliesslich durch die zeitlich variable Verfügbarkeit von Nahrung in den Ökosystemen. Denn anders als bei den gut dokumentierten Lachs-Wanderungen werden durch die Teilwanderungen der Rotaugen keine nennenswerten Nährstoffmengen von einem Ökosystem ins andere verschoben. Und obwohl es "nur" um Unterschiede im Timing geht, betreffen sie doch die Ökosysteme als Ganzes.
Erstmals belegt
Was die Abwesenheit von wandernden Beutetieren nicht nur für ihre Jäger, sondern für ein ganzes Ökosystem bedeutet, wurde vorher laut Bordersen noch nirgends beschrieben. "Dass sich der Unterschied zwischen Fastenzeit und Festessen für die Hechte in den offenen Seen verstärkt, war zwar anzunehmen", sagt der Fischökologe. Naheliegend war auch, dass sich mit der Abwanderung wichtiger Fischbestände aus dem offenen Wasser der ganze Nährstofffluss in die ufernahen Bereiche verschiebt. "Beweisen konnten wir das alles jedoch nur, weil wir vergleichbare Ökosysteme mit und ohne Fischwanderungen fanden."
Brodersen nimmt an, dass solche Einflüsse der Abwesenden auf Nahrungsnetze weit verbreitet sind. "In weniger klar abgegrenzten terrestrischen und maritimen Ökosystemen sind sie aber viel schwieriger zu dokumentieren."
Viel Forschungsbedarf
Tierwanderungen werden zunehmend zum Forschungsthema. Untersucht werden nicht nur spektakuläre Weitwanderungen wie etwa interkontinentale Vogelzüge oder die Laichwanderungen der Lachse vom Meer in die Bergbäche, wie der Fischökologe Brodersen erläutert. "Wir müssen auch lokale Verschiebungen von Teilpopulationen anschauen, wenn wir die Lebensweise und Entwicklung einzelner Arten oder Stoffflüsse und Stabilität der Ökosysteme verstehen wollen."
In der Schweiz gibt es zwar keine grossen seichten Seen, wohl aber kleinere Gewässer, die direkt mit den untersuchten Seen in Schweden und Dänemark vergleichbar sind. Als Beispiele nennt Jakob Brodersen den Hüttwilersee (TG), den Rotsee (LU) oder den Moossee (BE). "Vielleicht sollte man bei Winterspaziergängen mal einen Blick in ihre Zuflüsse werfen und schauen, ob auch hier die Rotaugen temporär auswandern."
Das Prinzip ist aber auch für viele andere Nahrungsnetze relevant. Und die Studie zeigt einmal mehr, wie wichtig die Beseitigung von künstlichen Wanderungshindernissen ist – denn diese betreffen nicht nur einzelne Tierarten, sondern auch das Funktionieren von ganzen Ökosystemen.