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«Es bedarf einer ganzheitlichen Sicht auf das Einzugsgebiet»
7. Juli 2022 |
Herr Bouffard, Sie waren massgeblich an der Konzeption des Infotags «Dynamische Gewässer: Neue Werkzeuge, neue Möglichkeiten» der Eawag beteiligt. Warum braucht es diese Fachtagung?
Die Technologien und Werkzeuge zum Erfassen und Analysieren von Gewässern entwickeln sich laufend und teilweise sehr schnell weiter. Sie ermöglichen es Fachleuten aus verschiedenen Bereichen, sei es aus der Forschung oder der Privatwirtschaft, die Dynamik von Oberflächengewässern zu untersuchen und Lösungen für den Erhalt von Wasserressourcen – eine der grossen gesellschaftlichen Herausforderungen – zu finden. Eines der Ziele des Infotages ist es, diese Fachleute zusammenzubringen, um den aktuellen Stand der Entwicklungen zu diskutieren und Erfahrungen auszutauschen. Am Infotag wollen wir auch darüber diskutieren, wie diese neuen Werkzeuge in Seen, Flüssen sowie städtischen Gebieten eingesetzt werden können, um einen ganzheitlichen Ansatz auf der Ebene von Wassereinzugsgebieten unterstützen zu können.
Sie haben lange mit Alfred Johny Wüest zusammengearbeitet. Prof. Dr. Wüest, der bis zu seiner Pensionierung in der Direktion der Eawag tätig war, hat diesen Infotag zusammen mit Ihnen konzipiert. Was nehmen Sie aus dieser Zusammenarbeit mit?
Frühere Generationen haben sich bereits mit ähnlichen Forschungsfragen befasst, und wir verfolgen oft die gleichen Ziele wie sie. Wir führen ihre Forschung fort, verfügen aber nun über neue Technologien und Werkzeuge, die uns dabei helfen, die Komplexität von Umweltsystemen besser zu verstehen. Es ist wichtig, die Errungenschaften der Vergangenheit zu verstehen und auf ihnen aufzubauen, um Fortschritte zu machen und nicht «das Rad neu zu erfinden». Ich beschäftige mich hauptsächlich mit Seen. Heute kann ich dank neuer Technologien zum Beispiel problemlos mit Fachleuten für städtische Gewässer, Flüsse, Gletscher usw. zusammenarbeiten, um bestimmte Entwicklungen bei Seen zu verstehen. Seen sind nämlich nicht isoliert, sondern Knotenpunkte in Wassereinzugsgebieten, sie sind gewissermassen Informationssammler. Dank neuer Technologien gelingt es uns heute schnell, innovative Lösungen für gesellschaftlich wichtige Probleme vorzuschlagen. Die Verfolgung von Viren im Abwasser während der Covid-19-Pandemie ist ein Beispiel dafür, was neue Technologien können.
Das Einzugsgebiet von Seen ist oft um ein Vielfaches grösser als die Wasseroberfläche. Im Bild ist das Einzugsgebiet des Genfersees dargestellt.
(Bild: www.bgbphenology.com)
Im Zentrum des Infotages stehen Methoden für ein Monitoring und Management von Oberflächengewässern auf der Ebene von Einzugsgebieten. Worin bestehen dabei die grössten Herausforderungen für Forschung und Praxis?
Es bedarf einer ganzheitlichen Sicht auf das Einzugsgebiet, um dessen Entwicklung zu verstehen und die Folgen lokaler Veränderungen abschätzen zu können. Dieses Management auf der Ebene des Einzugsgebiets ist jedoch kompliziert. Denn dazu müssen Daten aus verschiedenen Disziplinen wie Hydrologie, Glaziologie, Biologie, Chemie oder Physik miteinander verknüpft, ausgewertet und interpretiert werden. Und es braucht verschiedene Messmethoden wie Fernerkundung, Drohnen, analytische Methoden und Beobachtungen vor Ort. Es ist daher entscheidend, Fachleute aus den verschiedenen Disziplinen zu haben, welche die wichtigen Daten sammeln und analysieren. Ebenso entscheidend ist es, dass diese Fachleute miteinander kommunizieren und sich austauschen, um ein Gesamtbild zu erhalten, und dass sie nach Möglichkeit nachhaltige Lösungen vorschlagen, die der Komplexität des Systems Rechnung tragen. Die Ergebnisse müssen also ausgetauscht werden, was einen freien Zugang zu Daten und Modellen erfordert. Nur so können Wassereinzugsgebiete als Ganzes untersucht werden. Aus diesem Grund sind Open-Science-Projekte wie «Datalakes» wichtig.
Solche Open-Science-Projekte sind in der Forschung relativ neu. Können Sie mir beschreiben, wie die Plattform «Datalakes» funktioniert?
Das Ziel der Plattform ist es, den Austausch und die Nutzung von Daten zu ermöglichen. «Datalakes» basiert auf der Visualisierung von Daten und funktioniert deshalb gut, weil zahlreiche Forschende ihre Daten einspeisen und zur freien Verfügung stellen. Als Nutzer schaue ich mir zuerst die Daten an, die ich für meine Forschung benötige. Wenn ich mich als Seenforscher zum Beispiel für den Chlorophyllgehalt eines bestimmten Sees interessiere, kann ich die entsprechenden Daten herunterladen und frei verwenden. Ich habe auch Zugang zu anderen Daten wie Wetter- oder Strömungsdaten und kann so versuchen, meine Beobachtungen in einen Zusammenhang zu stellen. Der grosse Vorteil ist, dass ich nicht alle Daten selbst sammeln und aufbereiten muss. Die Rohdaten werden von kleinen Programmen verarbeitet und in sogenannte Produkte umgewandelt, die von jedem Nutzer und jeder Nutzerin direkt verwendet werden können. Die Programme sind ebenfalls frei verfügbar und werden von der Community laufend kontrolliert und weiterentwickelt. Die Nutzenden profitieren also gegenseitig vom Wissen und den Ergebnissen der anderen, und das in vielen verschiedenen Disziplinen.
Die meisten Methoden steckten vor zehn Jahren noch in den Kinderschuhen und liessen sich noch nicht standardmässig anwenden.
Die Vielfalt an Methoden und Techniken, die Forschung und Praxis heute zur Verfügung stehen, ist bemerkenswert. Wie schätzen Sie ihre Entwicklung in den letzten zehn Jahren ein?
Die meisten Methoden steckten vor zehn Jahren noch in den Kinderschuhen und liessen sich noch nicht standardmässig anwenden. Rückblickend ist es beeindruckend zu sehen, wie rasch sie sich in dieser relativ kurzen Zeit entwickelt haben. Ein Beispiel sind Satellitendaten: Satellitenaufnahmen gibt es bereits seit Längerem, ihre räumliche und zeitliche Auflösung war jedoch bis vor einigen Jahren gering. Wir konnten früher etwa alle zwei Wochen eine Messung durchführen, heute messen wir täglich und werten die Bilder fast in Echtzeit aus. So lässt sich heute zum Beispiel zeitnah mitverfolgen, wie sich Blaualgenblüten im Genfersee innerhalb nur weniger Tage entwickeln. Diese Bilder können wir dann mit den Wasserparametern verknüpfen, die wir auf der Forschungsplattform «LéXPLORE» stündlich messen.
Sie haben zahlreiche neue Möglichkeiten erläutert, die sich durch die technische Entwicklung ergeben. Besteht denn nicht die Gefahr, dass vor lauter Bäume der Wald nicht mehr erkannt wird?
Es besteht durchaus die Gefahr, bei Diskussionen über die neuen Werkzeuge und Technologien das Ziel aus den Augen zu verlieren. Das Sammeln und Analysieren von Daten sollten kein Selbstzweck sein, sondern uns dabei unterstützen, wissenschaftliche Fragen zu beantworten und gesellschaftlich relevante Probleme zu lösen. Denn unser Ziel ist es, das System- und Prozessverständnis von Oberflächengewässern zu verbessern, um die Wasserbewirtschaftung in den Wassereinzugsgebieten zu verbessern. Aus diesem Grund werden unsere gemeinsamen Fragen und Ziele in den Mittelpunkt des Infotages gestellt.
Unser Ziel ist es, das System- und Prozessverständnis von Oberflächengewässern zu verbessern, um die Wasserbewirtschaftung in den Wassereinzugsgebieten zu verbessern.
Welches sind denn für Sie die wichtigen Fragen in Bezug auf System- und Prozessverständnis oder Management von Oberflächengewässern?
Wir haben erst einen mangelhaften Einblick in Prozesse, die stromabwärts eines Einzugsgebiets ablaufen – also vom Gletscher über Fliessgewässer bis zu Seen, Grundwasser und Siedlungsgewässern. Dies erschwert es, zu verstehen, wie sich Veränderungen im Einzugsgebiet auf die verschiedenen Teilsysteme auswirken, zum Beispiel auf Seen oder das Grundwasser. Eine zweite Lücke sehe ich auf der zeitlichen Ebene: Für ein Monitoring von Oberflächengewässern auf der Ebene von Einzugsgebieten müssen wir einerseits Langzeitbeobachtungen durchführen, um langfristige Entwicklungen zu erfassen. Andererseits müssen wir kurzfristige Entwicklungen verfolgen und verstehen. Für einzelne Teilsysteme haben wir heute bereits bessere Möglichkeiten, wie das Beispiel der Blaualgenblüte zeigt. Das trifft aber nicht auf alle Systeme eines Einzugsgebiets zu. Was wir brauchen sind also langfristige Messungen mit einer sehr hohen zeitlichen Auflösung, was sehr aufwendig und herausfordernd ist.
Welche Herausforderungen stellen sich Ihnen hier als Forscher?
Zum einen müssen wir in der Lage sein, sehr grosse Datenmengen zu erfassen, zu analysieren und zu sichern. Auf der Forschungsplattform «LéXPLORE» am Genfersee ist es uns mit dem Projekt «Datalakes» gelungen, dieses Problem technisch zu lösen. Was noch zu lösen ist, ist die Frage, wie man die Zusammenarbeit von Experten aus verschiedenen Disziplinen über lange Zeiträume aufrechterhalten kann. Unsere Forschung basiert typischerweise auf Projekten, die über drei bis vier Jahre laufen. Die Entwicklung einer interdisziplinären Zusammenarbeit ist jedoch zeitaufwendig und nur über einen längeren Zeitraum hinweg wirksam. Die auf zehn Jahre angelegte Forschungsplattform «LéXPLORE» ermöglicht es uns, hier einen Schritt weiterzugehen und neue Synergien zu schaffen. Ohne die breite finanzielle Unterstützung der in «LéXPLORE» engagierten Universitäten und Forschungsinstitute wäre es unmöglich gewesen, die auf der Plattform laufenden Studien über einen Zeitraum von zehn Jahren zu planen.
Wagen Sie einen Blick in die Zukunft: Welche Fragen und Probleme lassen sich aufgrund der zu erwartenden methodischen Entwicklungen in den nächsten fünf bis zehn Jahren beantworten bzw. lösen?
Natürlich kann ich nicht in die Zukunft blicken, aber ich hoffe, dass es in den nächsten Jahren möglich sein wird, einen integrierten Gesamtüberblick über die Wasserdynamik in Wassereinzugsgebieten zu erhalten. Denn – um es plakativ auszudrücken – die Grenzen zwischen Teilsystemen wie Seen, Flüssen oder Grundwasser spielen für Umweltsysteme kaum eine Rolle. Zudem laufen biologische, chemische und physikalische Prozesse, die sich gegenseitig beeinflussen, gleichzeitig ab. Aus diesem Grund sind die Grenzen zwischen den Disziplinen für das Verständnis des gesamten Wassereinzugsgebiets bedeutungslos. Meine zweite Hoffnung ist, dass es uns gelingt, die gesellschaftliche Dimension und den «Faktor Mensch» in unsere Analysen und unser Verständnis der Prozesse zu integrieren. Diese sozialwissenschaftliche Perspektive ist notwendig, um besser zu verstehen, wie der Mensch die Systeme beeinflusst und welche Lösungen langfristig funktionieren und nachhaltig sind. Dies ist eine dringende, aber besonders anspruchsvolle Herausforderung.
Titelbild: Damien Bouffard (Foto: Christian Dinkel)