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Gesundheitscheck für Fliessgewässer in Europa
12. Juni 2012 |
Um den Zustand von Bächen und Flüssen zu ermitteln, messen Umweltexperten zumeist Parameter wie Temperatur, Säuregrad und Nährstoffgehalt. Und sie ermitteln die Zusammensetzung des Makrozoobenthos – Insektenlarven und andere Kleinlebewesen an der Gewässersohle. Letztere Methode wurde ursprünglich entwickelt, um zu beurteilen, wie stark das Wasser durch Abwässer belastet ist. Heute ist die Belastungssituation von Gewässern aber komplexer. Uferbefestigungen, Staustufen und Veränderungen des natürlichen Abflusses beeinträchtigen Fliessgewässer als Ökosysteme ebenso stark wie die Vielzahl chemischer Stoffe, die Einwanderung exotischer Arten und der Klimawandel.
Für die Beurteilung eines Ökosystems in seiner Gesamtheit reichen die etablierten Kriterien deshalb nicht mehr aus, ist Professor Mark Gessner (Eawag und IGB Berlin) überzeugt. «So wie ein Patient ohne Fieber trotzdem krank sein kann, können Bäche und Flüsse als Ökosystem trotz sauberen Wassers eine Vielzahl anderer Probleme haben», sagt der Biologe. Mitentscheidend für ein gesundes Ökosystem seien funktionierende Prozesse, die für das natürliche System charakteristisch sind. Dieser Aspekt werde bei der Bewertung von Fliessgewässern bislang völlig ausgeklammert.
Gessner und seine Forscherkolleginnen und -kollegen haben deshalb ein neues Verfahren getestet, das auf einem solchen Prozess beruht – dem Abbau von Laub in Fliessgewässern. «Laubeintrag ist die wichtigste Quelle für die Nahrungsnetze in kleineren Fliessgewässern und von grösster Bedeutung für den Gesamtstoffumsatz», so Gessner, der die Untersuchungen mit seiner ehemaligen Arbeitsgruppe an der Eawag, dem Wasserforschungsinstitut des ETH-Bereichs, durchgeführt hat und nun am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und an der Technischen Universität in Berlin forscht. Verantwortlich für den Abbau sind vor allem mikroskopisch kleine Pilze mit zum Teil bizarr geformten Sporen sowie das Makrozoobenthos.
Die Forscher platzierten mit Erlen- und Eichenlaub gefüllte Netzbeutel in 100 Bächen in Frankreich, Grossbritannien, Irland, Polen, Portugal, Rumänien, Spanien, Schweden und der Schweiz. Dann ermittelten die Forscher die Zeit, in der die Hälfte des Laubs abgebaut wurde – analog der Halbwertzeit beim radioaktiven Zerfall. Ausserdem bestimmten sie in einem Teil der Gewässer Anzahl und Artenspektrum des Makrozoobenthos sowie die Konzentration von Phosphat und mineralischen Stickstoffverbindungen.
Es zeigte sich, dass in nährstoffarmen Gewässern nur wenige Organismen leben, die das Laub effizient nutzen können. Gewässer mit einem hohen Überangebot an Nährstoffen bieten für diese Tiere ebenfalls kaum geeignete Lebensbedingungen. Entsprechend gering war in beiden Fällen ihr Beitrag zum Abbau. Im Bereich mittlerer Nährstoffkonzentrationen fanden die Forscher jedoch keinen Zusammenhang mehr zwischen Konzentration, Makrozoobenthos und Abbauraten. Ein beschleunigter Laubabbau kann also Beeinträchtigungen durch Nährstoffe signalisieren, wo herkömmliche Methoden auf eine einwandfreie Gewässerqualität schliessen würden, nämlich im Bereich relativ niedriger Nährstoffkonzentrationen.
Gessner sieht Potential in der Methode. Denn: «Als verlässlicher Gesundheits-Check reicht schnelles Fiebermessen für Fliessgewässer in Europa schon lange nicht mehr aus. Eine moderne Bewertung der Gewässer verlangt, dass die Ursachen hinter den gefundenen Symptomen – wie in der Medizin heute selbstverständlich – anhand sich ergänzender Kriterien diagnostiziert werden. Prozesse wie der Laubabbau können dazu einen wichtigen Beitrag leisten», sagt der Biologe.