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Sieben neue Felchenarten in der Zentralschweiz
2. Februar 2023 |
Der Edelfisch (Coregonus nobilis) war nach dem kleineren Albeli die zweithäufigste Felchenart in den Fängen der Fischer vom Vierwaldstättersee – bis Phosphat aus Haushaltabwässern und aus immer stärker gedüngten Böden das Algenwachstum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts explodieren liess. Im Vergleich zu den Mittellandseen blieb die Belastung im Vierwaldtättersee zwar bescheiden, und die Eutrophierung dauerte nur kurz; durch die Zersetzung der vielen Algen wurde der Sauerstoff in der Tiefe des Sees trotzdem knapp. Dem Edelfisch, der sich im Spätsommer auf Laichplätzen von 80 Metern Tiefe an abwärts fortpflanzt, bekam das nicht. Kurz bevor das Phosphatverbot für Waschmittel und der Bau von Kläranlagen Wirkung zeigten, brachen seine Bestände ein, und 1980 galt er als ausgestorben. Erst ab den späten 1990er Jahren wurden wieder einzelne Tiere gefangen, die der Felchenspezialist und Eawag-Forscher Rudolf Müller 2000 zweifelsfrei als C. nobilis identifizierte.
Ruedi Müller mit dem damaligen Luzerner Fischerei- und Jagdverwalter, Josef Muggli, auf Felchenfang (Foto: Robert Muggli, Archiv)
Fünf Felchenarten im Vierwaldstättersee
Heute ist der Edelfisch geschützt. Damit hat der Vierwaldstättersee keine seiner historisch belegten Felchenarten verloren. Und Eawag-Forschende haben neben den bereits bekannten Edelfisch, Albeli und Bodenbalchen sogar noch zwei neue Arten identifiziert: Zwei Grossfelchen, die sich in Lebensweise, äusserlichen Merkmalen und Erbgut von den bisher bekannten Arten unterscheiden. Der pelagische Schwebbalchen (Coregonus suspensus) lebt wahrscheinlich ständig im offenen Wasser, und zwar nicht nur zur Nahrungssuche, sondern auch zur Fortpflanzung – ein Laichverhalten, das man sonst nur von den Blaufelchen (C. wartmanni) im Bodensee kennt. Eine Position zwischen dem pelagischen Schwebbalchen und dem Bodenbalchen (C. litoralis) nimmt der litorale Schwebbalchen (C. intermundia) ein.
Sarnersee-Krimi Ob der Sarnersee ein natürliches Felchengewässer sei oder die Felchen aus den fürs Ende des 19. Jahrhunderts dokumentierten künstlichen Besatz-Aktionen stammen, war im 20. Jahrhundert eine Streitfrage unter Zoologen. Mit kriminalistischem Spürsinn untersuchten nun Eawag-Forscher Sedimentbohrkerne aus dem Sarnersee. Dabei fanden sie Felchenschuppen in Ablagerungen aus einer Zeit vor den künstlichen Besatzmassnahmen. Genetische Untersuchungen der heutigen Sarnerfelchen zeigten zudem klare Unterschiede zu allen anderen Schweizer Felchenarten. Diese komplementären Informationen erlaubten es, die Sarnerfelchen als eigenständige Art, C. sarnensis, zu beschreiben. Ob die Balchen (C. litoralis), die neben dem Sarnerfelchen vorkommen, den Sarnersee über Besatz oder über die ehemals bestehende Verbindung mit dem Vierwaldstättersee besiedelt haben, konnte nicht geklärt werden und bedarf weiterer „kriminalistischer“ Untersuchungen. |
Der Überlebende vom Zugersee
Schlimm traf die Eutrophierung die Felchen im Zugersee, der im 20. Jahrhundert wie andere Mittellandseen wesentlich stärker und während einer längeren Zeit überdüngt war als Gewässer, die näher am Ursprung der Flüsse liegen. Da nur noch die obersten Wasserschichten des 200 Meter tiefen Sees genug Sauerstoff für Fische aufwiesen, sind zwei Felchenarten, die in grösseren Tiefen des Sees laichten, ausgestorben: Das (Zuger) Albeli (C.zugensis) und der Zugeralbock (Coregonus obliterus). Der Zugeralbock wäre sogar völlig vergessen worden, hätten die Eawag-Forscher Oliver Selz und Ole Seehausen sie nicht in der historischen Steinmann-Eawag-Sammlung gefunden. Seine Merkmale und alte Berichte deuten darauf hin, dass der Zugeralbock auf das Leben in grosser Tiefe spezialisiert war – eine Spezialisierung, die man in diesem Mass nur vom ebenfalls ausgestorbenen Kilch (C. gutturosus) im Bodensee und vom noch existierenden Kropfer (C. profundus) im Thunersee kennt.
Übrig geblieben ist der eher ufernah laichende Zugerbalchen. Der Fisch verkündet denn auch mit seinem neuen wissenschaftlichen Namen Coregonus supersum: „Ich habe überlebt“.
Jeder See hat eigene Arten
Neu sind auch die wissenschaftlichen Namen des Bodenbalchen (C. litoralis) und des Albeli (C. muelleri) im Vierwaldstättersee. Denn als Oliver Selz und Ole Seehausen die Innerschweizer Felchen für die Aktualisierung der Taxonomie morphologisch und genetisch untersuchten, zeigte sich, dass fast jeder See seine eigene Albeli- und „Bodenbalchen“-Art hat.
Vorher waren die Albeli des Zuger- und Vierwaldstättersees als derselben Art („Coregonus zugensis“) zugehörig beschrieben worden, die ufernah laichenden Balchen der verschiedenen Innerschweizer Seen als „Coregonus suidteri“. Die Namen dieser „Sammelarten“ haben nun die ausgestorbenen Albeli des Zugersees (C. zugensis) und die Balchen des Sempachersees (C. suidteri) geerbt.
Die Albeli des Vierwaldstättersees erhielten ihre neue Bezeichnung C. muelleri zu Ehren des Gewässerbiologen und Felchenspezialisten Dr. Rudolf Müller (1944-2023).
Ein Abbild der Schweiz
Die Seen im Einzugsgebiet der Reuss sind ein Abbild der Schweiz. In den Alpenrandseen sind seit der letzten Eiszeit mindestens 35 Felchenarten entstanden, meist zwei oder mehr im gleichen See. Einen Drittel davon hat die Schweiz während der Seeneutrophierung nach der Mitte des 20. Jahrhunderts verloren. Viele der verlorenen Arten kennen die Forscher nur dank historischer Sammlungen wie derjenigen, die der Naturforscher Paul Steinmann noch vor der Seenüberdüngung anlegte und die heute vom Naturhistorischen Museum Bern kuratiert wird.
Namen
Sempachersee
C.suidteri = Sempacherfelchen, Sempacherbalchen
Zugersee
C.zugensis = Zugeralbeli (verschwunden)
C.obliterus = Zugeralbock (verschwunden)
C.supersum = Zugerbalchen
Vierwaldstättersee VWS
C.muelleri = Albeli
C.nobilis = Edelfisch
C.litoralis = Balchen, Bodenbalchen
C.intermundia = benthischer Schwebbalchen
C.suspensus = pelagischer Schwebbalchen
Sarnersee
C.sarnensis = Sarnerfelchen, Sarneralbeli
C.litoralis = siehe VWS: Balchen, Bodenbalchen
Titelbild: Diese sieben Felchen wurden erstmals als eigene Arten beschrieben, darunter das «Albeli» aus dem Vierwaldstättersee, das neu den Namen Coregonus muelleri trägt als Erinnerung an den Felchen-Experten Rudolf Müller. (Fotos: Eawag)
Originalartikel
Selz OM, Seehausen O (2023) A taxonomic revision of ten whitefish species from the lakes Lucerne, Sarnen, Sempach and Zug, Switzerland, with descriptions of seven new species (Teleostei, Coregonidae). ZooKeys 1144: 95–169. https://doi.org/10.3897/zookeys.1144.67747
Finanzierung
- Eawag
- Universität Bern
- Bafu