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Städtische Abwassersysteme nachhaltig entwickeln
8. April 2022 |
Das Schweizer Abwassersystem ist hocheffektiv, eines der besten weltweit, aber auch höchst kostspielig und verschwenderisch was Ressourcen anbelangt. Um menschliche Hinterlassenschaften zu entsorgen, durchzieht ein Kanalnetz von 130'000 Kilometern den Schweizer Untergrund. Zudem sind riesige Mengen an Wasser, meist Trinkwasser nötig, um Urin und Fäkalien zu weit entfernten Abwassereinigungsanlagen zu spülen, etwa 1,4 Milliarden Kubikmeter pro Jahr. Nur wenige reiche Länder können sich das tatsächlich leisten. Auch die Schweiz ist gefordert, denn die Infrastruktur ist überaltert und Bevölkerungswachstum, Klimawandel und Mikroverunreinigungen erhöhen den Druck auf Kanalsystem und Abwasserreinigungsanlagen, allen voran in den Städten. Da zudem weltweit Ressourcen immer knapper werden, steigt das Interesse, wertvolle Rohstoffe aus Abwasser zurückzugewinnen.
Beitrag zum Ziel 6 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen
Das inter- und transdisziplinäre Forschungsprogramm Wings des Wasserforschungsinstituts Eawag hat sich deswegen unter anderem zum Ziel gesetzt, städtische Abwassersysteme nachhaltig zu entwickeln und damit einen Beitrag zum Nachhaltigkeitsziel 6 der vereinten Nationen zu leisten: sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen für alle. Sabine Hoffmann, die das Programm leitet, erklärt: «Das Programm erforscht alternative, dezentrale Abwassersysteme, die keine weiträumigen Kanalnetze benötigen, weniger Wasser verbrauchen, das Abwasser direkt vor Ort reinigen und wertvolle Rohstoffe wie Wasser, Nährstoffe und Energie aus dem Abwasser zurückgewinnen.»
Zentrale, dezentrale, hybride Abwassersysteme
Konventionelle Abwassersysteme mit einem weiten Kanalnetz und wenigen, grossen Abwasserreinigungsanlagen werden als zentrale Systeme bezeichnet. Im Gegensatz dazu spricht man bei den neuen Abwassersystemen, die das Abwasser vor Ort behandeln, reinigen und recyceln, von dezentralen, nicht-netzgebundene Abwassersystemen. Werden dezentrale und zentrale Systeme miteinander verbunden, entstehen sogenannte hybride Systeme. Das ist vor allem für Länder wie die Schweiz, die bereits ein grosses Kanalnetz hat, ein guter Lösungsansatz. So können innovative Technologien in das konventionelle System eingebunden werden. In Ländern, die gerade erst beginnen, ein Abwassersystem aufzubauen, sind dezentrale Systeme häufig eine flexible, kostengünstige und ressourcenschonende Alternative.
In der Schweiz werden derzeit viele alternative Technologien entwickelt. In Genf trennen und behandeln Wohnbaugenossenschaften Urin und Haushaltsabwässer vor Ort. Das Schweizer Unternehmen Laufen bringt seit 2019 eine Toilette zur separaten Trennung und Rückgewinnung von Nährstoffen aus Urin auf den Markt. Eawag und Empa entwickeln und testen die dezentrale Abwasserreinigung im NEST-Gebäude, und die Städte Bern und Freiburg sind führend bei der Entwicklung von Quartieren mit dezentraler Abwasserreinigung. Der Zürcher Komposttoilettenhersteller Kompotoi will zusammen mit Partnern aus Deutschland und Frankreich die Abwasserwende einläuten und Ressourcenkreisläufe schliessen, indem er die Nährstoffe aus den Fäkalien und dem Urin der öffentlichen Komposttoiletten als Dünger in der Landwirtschaft verwendet.
Low- und High-Tech miteinander vernetzen
Wie eine Studie der Eawag-Forscher Jonas Heiberg und Bernhard Truffer gezeigt hat, sind die Ansätze sehr unterschiedlich. Während einige Akteure eher Low-Tech-Lösungen bevorzugen, setzen andere auf High-Tech. Das kann dazu führen, dass sich unabhängige Innovationsszenen entwickeln, die sich möglicherweise sogar gegenseitig blockieren. Hier setzt das Forschungsprogramm Wings an. «Nur wenn Forschung, Politik, Behörden, Stadtplanung, Ingenieur- und Architekturbüros zusammenarbeiten, lassen sich nachhaltige und praktikable Lösungen für unterschiedliche Städte und Bedürfnisse entwickeln und auch effizient umsetzen», sagt Sabine Hoffmann.
Um solche Lösungen zu entwickeln und in der Praxis konkret umzusetzen, arbeitet Wings in einem interdisziplinären Team von Ingenieurinnen und Ingenieuren sowie Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern der Eawag-Abteilungen Verfahrenstechnik, Siedlungswasserwirtschaft, Umweltsozialwissenschaften sowie Siedlungshygiene und Wasser für Entwicklung. Das Programm baut auf bestehenden inter- und transdisziplinären Projekten auf, die zum Teil eng mit Akteuren aus Verwaltung, Politik, Praxis und Industrie zusammenarbeiten. Es bündelt diese Forschungsprojekte unter einem gemeinsamen Dach und nutzt Synergien, um Veränderungsprozesse in Richtung einer nachhaltigen Siedlungswasserwirtschaft in Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern zu unterstützen. «Unser Ziel ist es, aus den bisherigen Erfahrungen in der Entwicklung und Umsetzung konkreter Lösungen zu lernen, um solche Veränderungsprozesse gezielt anstossen zu können», sagt Sabine Hoffmann.
Paradigmenwechsel vom linearen zum zirkulären Denken und Handeln
Wings zeigt zudem auf, in welchen Bereichen Anpassungen nötig sind, um Abwassersysteme zukunftsfähig zu machen. So braucht es zum Beispiel nicht nur Veränderungen von Infrastrukturen und Märkten, wobei technische und soziale Innovationen zu koppeln sind. Auch müssen sozio-technische Lösungen erstmal im kleinen Massstab gezielt getestet werden, zum Beispiel in Reallaboren, Pilotprojekten oder Experimentierräumen. Hierfür müssen geeignete Rahmenbedingungen geschaffen werden, die auch ein Scheitern erlauben. Natürlich müssen alle relevanten Akteure in solche Veränderungsprozesse systematisch und breit eingebunden werden. Aber letztendlich braucht es einen Paradigmenwechsel «vom linearen zum zirkulären Denken und Handeln», der in Schulen, Universitäten und der beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildung gezielt vermittelt werden muss.
Titelbild: Max Maurer, Eawag
Originalpublikationen
Kristof K (2021) Erfolgsfaktoren für die gesellschaftliche Transformation: Erkenntnisse der Transformationsforschung für erfolgreichen Wandel nutzen. GAIA - Ecological Perspectives for Science and Society 30 (1):7-11. doi:10.14512/gaia.30.1.3