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Bedrohte Fischvielfalt in Bächen wird erfasst
17. April 2019 |
Die Gewässer der Schweiz beherbergen eine einzigartige Artenvielfalt. Um diese erstmals genauer zu erfassen, haben Forschende der Abteilung Fischökologie und Evolution im Projekt «Progetto Fiumi» zwischen 2013 und 2018 hunderte von Flüssen und Bächen jeweils im September und Oktober systematisch befischt. «Mehr als die Hälfte der Fänge waren Forellen», sagt Jakob Brodersen, der das vom BAFU finanzierte Projekt koordiniert. «Und wir haben sie fast in allen Lebensräumen gefunden – von kleinen Bergbächen auf über 2000 Metern über Meer bis ins Tiefland.» Insgesamt entnahmen die Forschenden Fische an 308 Stellen, die sich über die ganze Schweiz und sämtliche Fluss- und Bachtypen verteilten.
Dass Forelle nicht gleich Forelle ist, war schon lange bekannt. So wurden bisher fünf Arten unterschieden, die sich in den grossen Flusssystemen vollkommen getrennt voneinander entwickelt haben. Die Bachforelle (Salmo trutta) in den Zuflüssen des Rheins, die Doubs-Forelle (Salmo rhodanensis), die Marmor- und die Italienische Bachforelle (Salmo marmoratus und Salmo cenerinus) in den Zuflüssen der Adria und die Schwarzmeerforelle (Salmo labrax) im Inn. Auch haben Schweizer Fischbiologinnen und Fischbiologen bereits im frühen 20. Jahrhundert auf unterschiedliche Forellenformen um die Engadiner Seen hingewiesen.
Neue Erkenntnisse zur Forellenvielfalt
Die vielfältigen Variationen zwischen und auch innerhalb der Arten hat das Team um Brodersen systematisch dokumentiert – und dabei Formen gefunden, die sich in Aussehen, Verhalten und zum Teil im Erbgut unterscheiden. Untersuchungen im Einzugsgebiet des Vierwaldstättersees zeigten zum Beispiel, dass sich Forellen in Bächen mit gleichmässiger Wasserführung bei der Beutewahl individuell stärker spezialisieren als Forellen in Wildbächen mit stark schwankender Wasserführung. In Graubünden verglichen die Forschenden Bachforellen, die in tiefen Lagen unter günstigeren Umweltbedingungen leben, mit ihren Verwandten im kargen Oberlauf von Wildbächen. Aber anders als erwartet waren die «Hochgebirgsforellen» nicht kleiner, als sie das erste Mal laichten, sondern ganz im Gegenteil signifikant grösser als die Forellen im Tiefland – eine wichtige Information, wenn es um das Festlegen von Mindestfangmassen geht. Und in der Waadt machten Behörden und Fischereiaufseher das Team auf einen Bach aufmerksam, in dem Forellen mit Punkten neben anderen ohne Punkte leben. Genetische Untersuchungen ergaben, dass die gepunkteten Tiere nah mit anderen Bachforellen in der Umgebung verwandt sind, nicht aber mit ihren punktlosen Nachbarn, mit denen sie sich gewöhnlich auch nicht fortpflanzen.
Jakob Brodersen entnimmt einem Jungfisch Muskelgewebe, um später Laboranalysen durchzuführen.
(Foto: Eawag)
Datenbank der Fischdiversität
Unterschiedliche ökologische Anpassungen und lokale Formen fand das Eawag-Team auch bei allen anderen Fischarten – von den weit verbreiteten Groppen bis zu Barben, Elritzen und anderen Karpfenartigen, die in den grossen, langsam fliessenden Gewässern dominieren. Erste genetische Analysen bestätigten manche bisherigen Annahmen nicht und deuten darauf hin, dass auch bei diesen Arten Überraschungen zu erwarten sind.
Für die weitere Erforschung der bisher weitgehend unbekannten innerartlichen Diversität wurde eine Sammlung angelegt. Sie umfasst heute gut 10'000 Fische, 20'000 Gewebeproben sowie Umweltproben, die über das Nahrungsnetz der Probestellen Auskunft geben. «Die Sammlung an der Eawag in Kastanienbaum steht als grossflächige Datenbasis für lokale Untersuchungen zur Verfügung», sagt Jakob Brodersen. «Umgekehrt wird sie durch Meldungen aus der Bevölkerung und durch lokale Untersuchungen laufend erweitert und verfeinert.»
Gefangene Forellen aus dem Fluss Ticino: Insgesamt umfasst das Sammlung von «Progetto Fiumi» 10’000 Individuen.
(Foto: Eawag)
Für einen Schutz, der wirkt
Bereits heute wird die Sammlung für verschiedene angewandte Forschungsprojekte genutzt. Denn die Fischdiversität ist durch Bachverbauungen, Wanderhindernisse, Schwall-Sunk-Probleme unterhalb von Kraftwerken und andere menschliche Einflüsse bedroht. Mit dem neuen Gewässerschutzgesetz will die Schweiz stark beeinträchtigte Lebensräume sanieren. Das Progetto Fiumi liefert unter anderem Grundlagen für Monitoringprogramme und angewandte Forschung. Es hilft damit, die Investitionen für Sanierungsmassnahmen so einzusetzen, dass sie den Fischen wirklich etwas nützen und die genetische Vielfalt nicht verloren geht, bevor sie überhaupt richtig erfasst worden ist.
Inventur auch in den Seen
Ähnlich zum «Progetto fiumi» untersuchte die Eawag von 2010 bis 2015 im «Projet Lac» die Fischvielfalt in den alpennahen Seen. Zusammen mit den Kantonen, dem Bundesamt für Umwelt, der Universität Bern und dem Naturhistorischen Museum der Berner Burgergemeinde sowie weiteren Partnern wurden über 70 Fischarten nachgewiesen. Viele Arten aus grösseren Wassertiefen, vor allem Felchen und Saiblinge, kommen nur in einzelnen Seen vor, wo sie im Laufe der Evolution - zumeist erst seit der letzten Eiszeit - durch Anpassung an die extremen Lebensräume entstanden sind. Viele der ehemaligen Tiefwasserfischarten sind aber mit der Überdüngung der Seen wieder verloren gegangen. >> www.eawag.ch/projetlac