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Ein Gesetz für alle – die Mathematik komplexer Ökosysteme

5. März 2013 | Andri Bryner

Forscher der Eawag und der EPFL haben eine Entdeckung gemacht, bei der es sich um eine universelle Gesetzmässigkeit für Grössenverteilungen in lebenden Systemen handeln könnte. Sollte dieses Gesetz tatsächlich für das gesamte Tierreich gültig sein, könnte es unser Verständnis für Populationsdynamiken in grossen Ökosystemen stark erweitern.

Neuere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass sich Vogelschwärme, Fischschulen und jede andere Gruppe lebender Organismen möglicherweise eine gemeinsame mathematische Funktion teilen. Mit seinen Untersuchungen an aquatischen Mikroorganismen hat Andrea Giometto, Doktorand an der EPFL und der Eawag gezeigt, dass bei jeder untersuchten Art die Körpergrössen entsprechend derselben mathematischen Formel verteilt sind, wobei die einzige Unbekannte die Durchschnittsgrösse einer Art in einem Ökosystem ist. Diese Woche erscheint sein Artikel im Fachjournal PNAS.

Funktion bleibt – auch wenn die Umwelt sich wandelt

Mehrere Faktoren weisen darauf hin, dass die gefundene Grössenverteilungsfunktion universell Gültigkeit hat. Zum einen machte Giometto seine Beobachtungen im Labor an 14 Arten aquatischer Mikroorganismen – einzellige und mehrzellige Organismen, aus fünf verschiedenen Ästen des Lebensbaums. Die Mikroorganismen, die er studierte, variierten um vier Grössenordnungen. Das entspricht dem Bereich zwischen einer Maus und einem Elefanten. Zudem blieb die mathematische Funktion zur Beschreibung der Grössenverteilung auch dann gleich, wenn die Arten sich an ein neues Umfeld anpassten (z.B. an Änderungen der Wassertemperatur oder die An- oder Abwesenheit von Konkurrenten) indem sie ihre Durchschnittsgrösse veränderten.

Nach diesen Beobachtungen gehen Giometto und seine Mitarbeiter davon aus, dass zwei separate Faktoren zusammen die Grössenverteilung einer Art formen. Während Umweltfaktoren die Durchschnittsgrösse einer Art in einer bestimmten Umgebung beeinflussen, verursachen physiologische oder genetische Faktoren die beobachtete Variabilität der Grössen in einer Art um den Durchschnittswert herum.

Von der Art zur Gemeinschaft

Bisher lag der Fokus auf der Grössenverteilung von Individuen einzelner Arten. Aber die neuen Ergebnisse werden besonders dann interessant, wenn man eine Beobachtung einbezieht, die Ökologen wohl bekannt ist. «Nimmt man ein Glas Wasser aus dem Meer und analysiert alle darin enthaltenen Mikroorganismen, dann sieht man, dass deren Grössen sich nach einem Potenzgesetz verteilen. Das bedeutet, dass in einer ökologischen Gemeinschaft keine Grösse über- oder unterrepräsentiert ist», erklärt Florian Altermatt, der Ökologe im Projektteam.

Bei Abweichungen beginnen neue Kräfte

Zusammengenommen haben diese Beobachtungen zu Grössenverteilungen innerhalb einer Art und innerhalb ganzer ökologischer Gemeinschaften interessante Konsequenzen: Wenn in einem Ökosystem mehrere Arten beginnen, sich derselben Grösse anzunähern, setzt eine ausgleichende Kraft ein, die diese Verteilung nach dem Potenzgesetz wiederherstellt, entweder durch Beeinflussung der Anzahl an Individuen oder der Grösse jeder Art.

Giometto und seine Koautoren hoffen, dass ihre Beobachtungen über die untersuchten Arten hinaus Gültigkeit haben. Das könnte zusätzliche Belege liefern für die Existenz universeller Gesetzmässigkeiten in natürlichen Ökosystemen. Gesetze, die nicht nur die Grösse und Anzahl von Organismen regulieren, sondern auch andere Eigenschaften, die das jeweilige Ökosystem auszeichnen, z.B. die Anzahl der koexistierenden Arten.

Die Suche nach Potenzgesetzen und deren Gebrauch zur Beschreibung komplexer Systeme hat bereits eine Erfolgsgeschichte zu verzeichnen. «In der Physik hat die Beobachtung, dass Systeme Potenzgesetzen folgen, zum Verständnis der Phasentransformation beigetragen. Wir gehen davon aus, dass Potenzgesetze ähnlich hilfreich sein können, um ein tieferes Verständnis zur Funktionsweise lebender Systeme zu erlangen», sagt Giometto, ein Physiker, der daran arbeitet, Methoden aus seinem Fachgebiet dazu zu nutzen, biologische Ökosysteme besser zu verstehen.

Originalpublikation

Scaling body size fluctuations; Andrea Giometto, Florian Altermatt, Francesco Carrara, Amos Maritan, Andrea Rinaldo. PNAS / March 2013,
www.pnas.org/cgi/doi/10.1073/pnas.1301552110

Vier Protozoenarten mit ganz verschiedenen Grössen.