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Mit Erbgut-Recycling auf die Überholspur

4. Oktober 2023 | Sibylle Hunziker

In nur 16‘000 Jahren sind im Viktoriasee über 500 Buntbarscharten entstanden, die sich über das gesamte Nahrungsnetz verteilen. Möglich wurde diese Explosion der Biodiversität durch wiederholte Zyklen von Fusion und Diversifizierung in evolutionären Linien, wie Forschende der Eawag und der Universität Bern in den Zeitschriften „Science“ und „Nature“ schreiben. Die Resultate zeigen, dass nicht nur Arten Schutz brauchen, sondern ganze „Arten-Schwärme“.

Ein guter Teil der Biodiversität weltweit ist durch adaptive Radiationen entstanden. Das heisst bei der Besiedlung eines neuen Lebensraums bilden sich aus einer Stamm-Art innerhalb weniger hunderttausend oder gar zehntausend Jahre viele neue, nah verwandte Arten, die unterschiedliche ökologische Nischen besetzen. Beispiele dafür sind etwa die Darwinfinken auf Galapagos oder Saiblinge in Grönland, Flohkrebse in europäischen Grundwasserströmen oder Felchen in den tiefen Alpenrandseen:

Doch warum neigen manche Familien zu schneller Artbildung und andere nicht? Diese Frage untersuchten zwei Teams um Ole Seehausen vom Schweizer Wasserforschungsinstitut Eawag und der Universität Bern anhand der schnellsten und grössten bekannten Radiation jener– der Buntbarsche im Viktoriasee. Antworten haben sie zum einen im Erbgut der Fische, zum andern in Fischfossilien aus den Seesedimenten gefunden und soeben in den Zeitschriften „Science“ und „Nature“ publiziert.

Überlebende einer Katastrophe als Startpunkt

Die Geschichte des heutigen Buntbarschreichtums im Viktoriasee beginnt mit einer Katastrophe. Gegen Ende des letzten Eiszeitalters vor etwa 20‘000 Jahren trocknete der Viktoriasee aus. Restbestände seiner zuvor wahrscheinlich reichen Fischfauna überdauerten die fast 4‘000 Jahre währende Trockenphase in vereinzelten Sumpfgebieten, die vom grössten See Afrikas übriggeblieben waren.

Als sich das Seebecken wieder mit Wasser füllte, kehrten auch Überlebende zurück: Über 7‘000 Fischzähne aus den Sedimenten der letzten fast 17‘000 Jahre konnte Nare Ngoepe, Erstautorin der „Nature“-Studie, fünf verschiedenen Familien von karpfenartigen Fischen, Welsen und Buntbarschen zuordnen.

Nur eine dieser Familien aber, die Buntbarsche, spaltete sich seither schnell in unterschiedliche Arten auf – und zwar gleich in 500! Wie die Science-Studie mit Vergleichen von Genomen heutiger Arten rekonstruiert hat, stammen diese 500 Arten von einer Hybridpopulation ab, die zeitgleich mit dem neuen See entstand. Hybride entstehen, wenn sich zwei Tiere verschiedener Arten paaren. Im nach der Trockenphase wieder wachsenden Viktoriasee kamen drei unterschiedliche Buntbarsch-Linien, die ihrerseits das Produkt einer über 300'000 Jahre älteren Hybridisierung waren, zusammen, vermischten sich und kombinierten so ihr Erbgut.

Schnelle Spezialisierung

Als sich die Hybridpopulation ausbreitete, begannen Teile davon, sich zu spezialisieren. Diese Teilpopulationen pflanzten sich aufgrund unterschiedlicher Verhaltensmuster zunehmend isoliert voneinander fort. Ökologische Differenzierung und damit verbundene Selektion von unterschiedlichem Erbgut in unterschiedlichen ökologischen Nischen führte schnell zur Bildung unterschiedlicher Arten, die sukzessive in immer neue, noch extremere ökologische Nischen vorstossen konnten.

„Die neuen Buntbarscharten erschlossen das gesamte Nahrungsnetz“, sagt Joana Meier, Erstautorin der „Science“-Studie. „So entstanden gleich mehrere Gattungen, die sich auf ganz bestimmte Algen oder Insekten, auf Abfall oder Pflanzenteile spezialisierten, während andere Fischeiern nachspürten, Plankton aus dem Wasser filterten oder spezielle Fangtechniken für Brütlinge, Jungfische und ausgewachsene Buntbarsche entwickelten.“

Wegen der nahen Verwandtschaft waren auch immer wieder neue Hybridisierungen möglich, die das Nahrungsnetz mit neuen Erbgutkombinationen noch enger knüpften. An gemeinsamen Laichplätzen von grossen Jägern und kleinen Planktonfilterern entstanden zum Beispiel gleich mehrere Arten von Zwergjägern: Der Ökotyp, den es nur im Viktoriasee gibt, kombiniert anatomische Eigenschaften des Kopfes grosser Jäger mit Grösse und Körperform von Planktonfressern, womit neue Resourcen erschlossen werden konnten.

Gleiche Startbedingungen für alle

„Der Erfolg der Buntbarsche beruht nicht darauf, dass sie vor den anderen Fischen im neuen Viktoriasee gewesen wären und Ressourcen für sich monopolisiert hätten“, stellte Nare Ngoepe anhand der Fischfossilien fest. „Ganz im Gegenteil dominierten in den ersten gut tausend Jahren nach der Wiederbesiedelung die karpfenartigen Fische.“

Doch als das Wasser stieg und ein tiefer See entstand, blieben die auf seichtes Wasser und kleine Bäche spezialisierten Arten an die ufernahen Bereiche und die Sümpfe gebunden. „Die Buntbarschfossilien hingegen sind auch in den Sedimenten dieser neuen Habitate häufig“, sagt Ngoepe. Offensichtlich stürzten sich die Buntbarsche unverzüglich ins offene Wasser oder in die Tiefen des Sees.
 

Die Geschichte des Sees und seiner Besiedlung

Das Erbgut der Buntbarsche erzählt die Geschichte einer riesigen Familie. Offen war aber die Frage, ob diese Buntbarschfamilie vielleicht wegen eines zeitlichen Vorsprungs bei der Wiederbesiedlung des Viktoriasees die Ressourcen so umfassend und differenziert nutzen konnte. Deshalb griff das interdisziplinäre Team um Nare Ngoepe und Ole Seehausen mit Paläoökologen der Uni Bern um Willy Tinner und Martin Grosjean für die neue „Nature“-Studie zu einem paläoökologischen Ansatz – zum ersten Mal überhaupt in der Erforschung adaptiver Radiationen in grossen Seen. Anhand von fossilen Fischzähnen, die eine taxonomische Bestimmung mindestens bis auf Ebene der Fischfamilie zulassen, sowie anderem organischem Material aus Sedimentkernen gelang es, die Ökologie des Viktoriasees in den letzten 17‘000 Jahren lückenlos zu rekonstruieren und die Hypothese einer anfänglichen Buntbarschdominanz zu widerlegen.

Feldarbeit am Viktoriasee (Fotos: Eawag, Ole Seehausen, Anna Mahulu, Nare Ngoepe, Moritz Muschick)

Vielfalt überlebte als Puzzle

Dass die Buntbarsche so schnell den neuen See eroberten und effizient das ganze Nahrungsnetz nutzen konnten, war nur dank dem vielfältigen Erbgut möglich, das in den Hybridschwärmen zusammenkam. „Die wenigen Genmutationen, die in der evolutionsgeschichtlich kurzen Zeit der letzten 16‘000 Jahre neu entstanden, spielten dabei keine Rolle“, sagt Joana Meier. „Entscheidend war vielmehr, dass unterschiedliches Erbgut, das in den verschiedenen Buntbarschlinien überlebt hatte, nach der Trockenphase nur noch neu ‚zusammengesetzt‘ werden musste“. So brachte zum Beispiel eine Elternlinie die für Jäger relevanten Erbinformationen mit, während das Erbgut der anderen beiden Linien die Spezialisierungen der Algen- und Pflanzenfresser ermöglichte.

„Dank den Zyklen von Hybridisierung und Spezialisierung wurden trotz der bewegten Klimageschichte der Region und dem wiederholten Artensterben zahllose Varianten von Erbeigenschaften erhalten, die sich über Jahrmillionen in den Buntbarschbeständen angesammelt haben“, sagt Ole Seehausen. Denn wenn durch eine Katastrophe ein Teil der spezialisierten Arten verloren ging, überdauerte doch ein Grossteil ihres Erbguts, verteilt auf die wenigen überlebenden Hybridpopulationen. Kamen diese wieder zusammen, konnten auch die verlorenen Spezialisierungen schnell wieder „rekonstruiert“ und neue „dazuerfunden“ werden.

Mit Arten-Schwärmen Evolutionspotenziale schützen

„Das sind wichtige Erkenntnisse für die Erhaltung von Biodiversität“, sagt Evolutions- und Fischbiologe Seehausen. Der Versuch, einzelne Arten zu schützen, greife zu kurz – gerade in Zeiten, in denen der Mensch mit Überdüngung und Verbauungen, mit der Einschleppung invasiver Arten und mit dem Klimawandel vermehrt ökologische Katastrophen auslöst. „Wir müssen auch das Evolutionspotenzial ganzer ‚Arten-Schwärme‘ schützen.“ Denn sie können dazu beitragen, dass sich Ökosysteme schneller erholen – und damit auch ihre für Menschen lebenswichtigen Funktionen. „Voraussetzungen dafür sind zusammenhängende Lebensräume, die Tierwanderungen erlauben, eine grosse Vielfalt unterschiedlicher ökologischer Nischen, damit vielfältiges Erbgut durch vielfältige Selektion erhalten bleibt und ein Verständnis von Evolution, das gelegentliche Hybridisierungen über Artgrenzen hinweg nicht als Sackgasse sieht.“
 

Die Familiengeschichte

Um die Stammbäume der adaptiven Radiation im Viktoriasee zu rekonstruieren, analysierte Joana Meier für die neue „Science“-Studie 464 Genome von ostafrikanischen Buntbarschen aus einer Sammlung, die Ole Seehausen mit seinem Team in den letzten drei Jahrzehnten für morphologische, ökologische und genetische Studien aufgebaut hat. 288 Genome stammten von 120 Arten, die mit Ausnahme der ausgestorbenen Schuppenraspler alle bekannten Buntbarsch-Gattungen und -Ökotypen des Viktoriasees vertreten; dazu kamen Genome von  Buntbarsch-Arten aus anderen Teilen der Region der Grossen Afrikanischen Seen.

Titelbild: Der Viktoriasee in Ostafrika war während fast 4'000 Jahren komplett ausgetrocknet, bevor er sich vor 16'000 Jahren wieder mit Wasser füllte. (Foto: Eawag, Nare Ngoepe)
 

Originalpublikation

Meier, J. I.; McGee, M. D.; Marques, D. A.; Mwaiko, S.; Kishe, M.; Wandera, S.; Neumann, D.; Mrosso, H.; Chapman, L. J.; Chapman, C. A.; Kaufman, L.; Taabu-Munyaho, A.; Wagner, C. E.; Bruggmann, R.; Excoffier, L.; Seehausen, O. (2023) Cycles of fusion and fission enabled rapid parallel adaptive radiations in African cichlids, Science, 381(6665), eade2833 (13 pp.), doi:10.1126/science.ade2833, Institutional Repository
Ngoepe, N.; Muschick, M.; Kishe, M. A.; Mwaiko, S.; Temoltzin-Loranca, Y.; King, L.; Courtney Mustaphi, C.; Heiri, O.; Wienhues, G.; Vogel, H.; Cuenca-Cambronero, M.; Tinner, W.; Grosjean, M.; Matthews, B.; Seehausen, O. (2023) A continuous fish fossil record reveals key insights into adaptive radiation, Nature, 622, 315-320, doi:10.1038/s41586-023-06603-6, Institutional Repository

Finanzierung / Kooperationen

  • Eawag
  • SNSF
  • Universität Bern