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Neugierig, engagiert, inspirierend - ein Vollblut-Forscher geht in Pension

31. August 2021 | Simone Kral

Offiziell ist er Prof. Dr. Alfred Wüest. Für seine Forscherkolleginnen und -kollegen und seine Wegbegleiter ist er einfach Johny. Als er 1983 an die Eawag kam, ahnte niemand, welchen prägenden Einfluss Johny Wüest auf das Forschungsinstitut, aber vor allem auf die vielen Menschen haben würde, die über die Jahre mit ihm zusammengearbeitet haben.

Es war ein Anruf, der alles veränderte: «Ich wollte mehr über die Umweltwissenschaften und über Veränderungen hin zu einer «langfristigen Zukunft» wissen und rief bei der Eawag an, wo ich an Dieter Imboden durchgestellt wurde, der mich daraufhin als Doktorand an der ETH Zürich aufnahm», erzählt Johny über seinen Eawag-Anfang. Und ergänzt schelmisch: «Der Begriff ‘nachhaltig’ war in den frühen 1980er Jahren noch nicht en vogue.»

Heute, 38 Jahre nach diesem Telefonanruf, hat Johny einen prägenden Eindruck hinterlassen und das nicht nur durch seine herausragende Forschungsleistung, sondern vor allem als Mensch. Fragt man seine Kolleginnen und Kollegen und seine jahrzehntelangen Wegbegleiter, wiederholen sich die Aussagen ganz deutlich – Johny ist ein Vollblut-Forscher, den seine Neugier und die Leidenschaft für die Wissenschaft immer angetrieben haben. Einer, der nie müde wurde, sich für seine Ideen, Überzeugungen und Werte einzusetzen und sich auch nicht scheute, kritisch oder manches Mal unbequem zu hinterfragen. Dabei aber immer fair und bodenständig blieb, eng verwurzelt mit seinem Heimatkanton Luzern und weltoffen zugleich.

Spezialisierung der Wissenschaft und übergeordnete Fragestellungen

Fragt man ihn selbst, was ihn am Forschen über all die Jahre begeistert hat, ist seine Antwort überraschend einfach: «Anfang der 1980er Jahre waren verunreinigte Gewässer ein tägliches Thema und es motivierte mich, dass die Forschungsfragen so nahe an den realen Problemen lagen. Auch erwachte die Umweltpolitik zu diesem Zeitpunkt, was die Umweltforschung spannend machte.»

Eine Begeisterung, die bis heute wirkt und Johny in all den Jahren dazu anhielt Forschung ganzheitlich zu betrachten: «Umweltforschung geschieht immer im gesellschaftlichen Kontext und nicht zum Selbstzweck», ist er überzeugt. Und dafür hat er sich nicht nur in seiner Heimat, sondern auch weit darüber hinaus eingesetzt. Den Kontext zu sehen, sei es auf sozialer oder politischer Ebene, in der Schweiz oder in seinen internationalen Projekten. «Forschung im Elfenbeinturm kann nicht funktionieren». Mit dieser Überzeugung prägte er die Eawag nach innen, aber auch nach aussen, denn oft setzte sich Johny Wüest engagierte dafür ein, dass die Relevanz und der Kontext der Eawag-Forschung wahrgenommen und verstanden wurden.

In diesem Zusammenhang sieht er auch die für ihn eindrückliche Zeit der Reorganisation der Eawag Ende der 1990er Jahre, die bis heute Erinnerungen hervorruft. Auch damals ging es um das Spannungsfeld zwischen der Spezialisierung der Wissenschaft und den übergeordneten Fragestellungen. Etwas, das sich laut Johny mit der jüngst geführten Nachhaltigkeitsdebatte wiederholt: «Ich würde mir wünschen, dass sich die Forschung dieser Diskussion stellt und die Jagd nach Publikationen hinterfragt. Dass vor allem die junge Generation kritische Fragen stellt, wird auch der Eawag als nationalem Forschungsinstitut nützlich sein, denn wir dürfen die übergeordneten Ziele, welche für die Schweiz, Europa und die Welt wichtig sind, nicht durch die Spezialisierung aus den Augen verlieren.»

«Schon ein wenig stolz drauf»

Wollte man alle beruflichen Stationen und wissenschaftlichen Leistungen von Johny Wüest aufzeigen, würde das deutlich mehr Raum benötigen. Trotzdem nennt Johny einige Erfolgserlebnisse, auf die er schon «ein wenig stolz» ist. Zum Beispiel die Kombination von Forschung und Beratung am Kivu See in Zentralafrika, wo es das Ziel war, die Ansammlung von Methan und Kohlendioxid zu verstehen, welche in Erinnerung an die tödliche Nyos-Eruption von 1986 immer wieder von neuem Furcht verbreitet. Die diversen Projekte des Schweizer Nationalfonds und des Eidgenössischen Departementes für auswärtige Angelegenheiten, welche er dort mit seinem Eawag-Kollegen Martin Schmid durchführen konnte, gehören wahrscheinlich zu den detailliertesten Studien, die je über einen einzelnen See erstellt wurden und die zu Fachwissen führten, das in über 20 Publikationen dokumentiert ist. «Die langjährige Beratungstätigkeit für die Regierung von Ruanda und das erste grosse Methanabbau-Projekt KivuWatt öffneten mir ausserdem die Augen für die politische Komplexität im Entwicklungskontext», erklärt Johny heute.

Zu seinen intensivsten Erfahrungen gehörte auch die Arbeit in Russland, wo er eine grosse Diskrepanz zwischen institutionellen und politischen Defiziten auf der einen Seite und der kooperativen, kollegialen und kompetenten Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen auf der anderen Seite erlebte. In Russland konnte er gemeinsam mit den Eawag-Forschern Michael Sturm, Michael Schurter und Martin Schmid auf dem Baikalsee im Winter einige spektakuläre Beobachtungen der Tiefenwasserbildung machen, als starke Winde zu küstennahem Absenken führten, wodurch die thermobare Schichtung getunnelt wurde.

Mit dem Aufeinandertreffen von Ökologie und Energie befasste sich Johny unter anderem beim Brienzersee-Projekt, wo er gemeinsam mit Markus Zeh vom Amt für Gewässerschutz und Abfallwirtschaft des Kantons Bern ein Team aus Forschung und Praxis leiten konnte, um den Veränderungen des Nährstoff-/Produktionsregimes und der Trübung des Sees sowie den Auswirkungen von Pumpspeicherkraftwerken auf den Grund zu gehen.

Ein echtes interdisziplinäres Highlight war das Projekt im Tessiner Cadagno-See, wo unter der Leitung von Tobias Sommer von der Hochschule Luzern, die halbe Abteilung Oberflächengewässer sowie eine international zusammengesetzte Forschergruppe mobilisiert werden konnte, um von den Chromatium Okenii-Bakterien zu erfahren, ob sie im Stande sind ganze Wasserschichten mechanisch zu vermischen.

Die Aufzählung liesse sich um zahlreiche weitere spannende Projekte und Forschungsarbeiten verlängern. Genannt werden muss jedoch die Forschungsplattform LéXPLORE, zu deren Erfolg Johny massgeblich beigetragen hat. Auch dank seines Engagements konnte das schwimmende Labor im Februar 2019 auf dem Genfersee seine Arbeit aufnehmen. «Ich bin stolz, dass es uns gelungen ist, alle limnologisch interessierten Hochschulinstitute um den See zusammenzubringen und von LéXPLORE zu überzeugen», unterstreicht Johny die Bedeutung der Plattform, mit der nun Vorgänge in einem grossen See in einer dicht besiedelten Region untersucht werden können. Aktuell laufen dort rund 30 Projekte – vom Vorkommen der Quagga-Dreikantmuschel bis zur Verunreinigung mit Mikroplastik.

Ab an die frische Luft oder auf in den Ost-Kongo?

Wer Johny kennt, weiss, dass mit der Pensionierung keine Langeweile droht und auch kein überhasteter Aktivismus. Neugierig und offen wie er nun einmal ist, freut er sich auf neue Wege, sei es beim Wandern oder Velofahren, um an der frischen Luft neue Landschaften und Ökosysteme zu entdecken. Und wenn ihn der eine oder andere Pfad in eine für ihn neue, sympathische Beiz führt - noch besser. «Auch für die Fussballstadien und für lokale Kulturgeschichte werde ich nun mehr Zeit finden», ist sich Johny sicher. Konkretes planen will er noch nicht und denkt bewusst nicht über ein Jahr hinaus. Trotzdem gibt es die Idee, über den Winter mit seiner Frau in den Ost-Kongo zu gehen und dort Studierende an der Uni in Bukavu zu unterstützen. Doch Pandemie-bedingt steht dieses Vorhaben leider noch auf unsicheren Beinen – wir dürfen gespannt sein. Wird er die Eawag vermissen? «Ja sicher, aber ich weiss, dass die Kolleginnen und Kollegen, die nachfolgen, bereit sind, die Arbeiten moderner und effektiver weiterzuführen. So ist Loslassen ganz einfach»


Prof. Dr. Alfred Wüest - Eckdaten und Forschungsschwerpunkte

Seine Laufbahn an der Eawag startete Prof. Dr. Alfred Wüest im Jahr 1983. Nach seinem Studium in Teilchen-Physik an der Universität Zürich und dem Nachdiplom in «Siedlungswasserbau und Gewässerschutz» an der Eawag hat Johny Wüest 1987 in der Gruppe von Prof. D. M. Imboden an der ETH/Eawag promoviert. Zurück aus seinem Aufenthalt als Postdoc in den USA, kam er als Gruppenleiter in die Abteilung Umweltphysik und später in die Abteilungen Angewandte Gewässerökologie und Oberflächengewässer, die er je ab 2000 und ab 2006 für sechs Jahre leitete. Von 2015 bis März 2021 war er engagiertes Mitglied der Eawag-Direktion, wo er die Eawag Kastanienbaum vertrat und als Liaison zur EPFL wirkte. Auch vertrat er das Bestreben der Eawag der Umwelt-Praxis mehr Gewicht zu verleihen, so etwa der energierelevanten Forschung. Seit 2002 war er Titularprofessor im Fachbereich Aquatische Physik im Departement Umweltsystemwissenschaften der ETH Zürich. 2012 wurde Johny Wüest ordentlicher Professor für Physik Aquatischer Systeme (Margaretha-Kamprad Lehrstuhl) bei den Umweltingenieuren und seit 2013 war er Leiter des Zentrums für Limnologie an der EPF Lausanne.

Der Umweltphysiker erforschte Mischungsprozesse und biogeochemische Stoffflüsse in Seen und unterrichtete in einem internationalen Team Fluidmechanik der Umwelt. In Dutzenden von Beratungsprojekte unterstützte er in Zusammenarbeit mit Eawag-Forschenden kantonale Fachstellen und vertrat die Eawag in diversen Fachgremien. Für das Competence Center Environment and Sustainability des ETH-Bereichs (CCES) war er im Management-Gremium und arbeitete unter der Leitung von Bernhard Wehrli (Eawag, ETH Zürich) an Studien zu einem integralen Wassermanagement im Einzugsgebiet des Sambesi - für ein halbes Jahr auch vor Ort in Lusaka.

Mit seiner Forschung hat er einen wesentlichen Beitrag zur limnologischen Forschung weltweit geleistet und wird heute als ein wichtiger Akteur auf diesem Gebiet angesehen. Beliebt bei den Studierenden und als Mitglied in diversen Organisationen hat der visionäre Forscher und Autor zahlreicher Publikationen massgebend zum internationalen Ruf der Eawag, der EPFL und der ETH Zürich beigetragen.
 

Titelbild: Christian Dinkel, Eawag