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Zuverlässige Ausbreitungs-Prognosen mit erweitertem Modell

16. Januar 2014 | Andri Bryner

Die Frage, wie schnell Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen neue Gebiete besiedeln können, beschäftigt nicht nur Ökologen – die Ausbreitung von standortfremden Arten kann auch ökonomische Konsequenzen nach sich ziehen, beispielsweise in der Landwirtschaft. Wissenschafter der Eawag und der EPF Lausanne haben jetzt ein bestehendes Modell verbessert und erstmals mit Laborexperimenten verifiziert. Es kann die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Lebewesen berechnen.

In unserer globalisierten Welt reisen nicht nur Menschen und Waren rund um den Erdball– auch Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen erreichen innerhalb kurzer Zeit (fast) jeden Ort auf der Welt und können so tausende Kilometer von ihrem Ursprungsort entfernt neue Lebensräume erobern. Um zur richtigen Zeit am richtigen Ort Gegenmassnahmen treffen zu können müssen Geschwindigkeit und Muster der Ausbreitung bekannt sein.

Betagtes Modell, bewährter Ansatz

Ein 1937 vom Biologen Ronald Aylmer Fisher und vom Mathematiker Andrei Nikolajewitsch Kolmogorow entwickeltes mathematisches Modell erlaubt es den Ökologen, Prognosen über die durchschnittliche Ausbreitungsgeschwindigkeit von Lebewesen zu machen. Der dem Modell zugrundeliegende Ansatz von Diffusionsprozessen (Bewegungsradius der Individuen) und Reaktionsprozessen (Reproduktionsrate der Population) wird auch in der Krebsmedizin oder in der Chemie und Physik angewandt. Für die Modellrechnungen werden lediglich zwei einfach zu ermittelnde Parameter benötigt: Die Diffusionskonstante und die Reproduktionsrate des zu untersuchenden Objekts.

Trotz offensichtlicher Stärken, wies das ökologische Modell bisher zwei entscheidende Schwächen auf: Es ist nie unter kontrollierten Bedingungen experimentell getestet worden und die in der Realität sichtbare Variabilität in der Ausbreitungsgeschwindigkeit konnte nicht reproduziert werden. Der Biologe Florian Altermatt von der Eawag, der Physiker Andrea Giometto von der EPF Lausanne und ihre Forscherkollegen haben dem mathematische Modell nun neue Elemente hinzugefügt und die Voraussagen mit Hilfe von Laborexperimenten überprüft.

Invasion im Plexiglaskanal

Die demographischen Prozesse innerhalb einer Population variieren und sind nicht nur auf Umwelteinflüsse zurückzuführen – unter identischen Bedingungen produziert nicht jedes Individuum gleich viele Nachkommen. Die Wissenschafter beschrieben dieses Phänomen mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung und ergänzten im mathematischen Modell eine Funktion, welche die zufälligen, individuellen Unterschiede in der Fortpflanzung quantifiziert. Mit diesem erweiterten Modell kann zusätzlich die Variabilität der Ausbreitungsgeschwindigkeit ermittelt werden.

Die Wissenschafter verglichen nun die Modelldaten mit den Ergebnissen von Laborexperimenten. Dazu füllten sie einen zwei Meter langen Plexiglaskanal mit Nährlösung und beschickten ihn auf der einen Seite mit ihrem Studienorganismus, einem einzelligen Wimperntierchen. Die individuellen Bewegungen der Wimperntierchen wurden von Kameras aufgezeichnet (siehe Abbildung) und erlaubten die Berechnung der Diffusionskonstanten. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit in die Richtung des unbesiedelten Rohrabschnitts wurde anhand einer kritischen Zellkonzentration in der Flüssigkeit bestimmt.

Die Ergebnisse der Laborexperimente zeigten eine sehr grosse Übereinstimmung mit den Resultaten der Modellrechnungen. Die Wissenschafter hoffen nun, dass sich die Kolonisation und deren Dynamik mit dem ergänzten Modell und dank ihrer Versuche bald auch in der natürlichen Umwelt mit wenigen Messungen rasch und zuverlässig bestimmen lassen. Ihr Artikel dazu wurde am 7. Januar 2014 in der renommierten Zeitschrift PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences) veröffentlicht.

Chancen für bedrohte Arten verbessern
Im Gegensatz zur Bekämpfung invasiver Spezies, fördert der Mensch mit Schutzmassnahmen lokal ausgestorbene oder stark dezimierte Tier- und Pflanzenarten. Amerikanische Wissenschaftler nutzten 1988 das Fisher-Kolmogorow-Modell, um die Population des Kalifornischen Seeotters entlang der Pazifikküste zu untersuchen. Der Bestand dieser Tiere war Anfangs des 20. Jahrhunderts durch die Jagd auf weniger als 100 Tiere an einer einzigen Stelle gesunken. Strikte Schutzbestimmungen zeigten aber Wirkung, und die Otter breiteten sich wieder nach Norden und Süden aus. Das Modell konnte die Ausbreitungsgeschwindigkeit und Besiedelung ehemaliger Lebensräume gut vorhersagen. Das nun erweiterte Werkzeug, so hoffen Giometto und seine Kollegen, sollte in der Lage sein, zusätzliche auch eine Variabilität der Wiederbesiedelung vorherzusagen. Damit könnten Schutzmassnahmen optimiert werden.

Die Bewegungsmuster von Wimperntierchen (Tetrahymena sp.) über einen Zeitraum von rund einer Minute, und einer Distanz von wenigen Millimetern. Jeder farbige Pfad entspricht dem Bewegungsmuster von einem einzelnen Wimperntierchen. Das Studium der lokalen Bewegungs- und Reproduktionsmuster ermöglichst Vorhersagen der Dynamik von Invasionen über mehrere Generationen.

Mit der Mikroskopkamera (Hintergrund) werden Bewegungsmuster erfasst; vorne der Plexiglaskanal, der den Forschern dazu gedient hat, die Ausbreitungsgeschwindigkeiten der Wimperntierchen zu ermitteln.

Weitere Auskünfte

Original publication

Giometto A, Rinaldo A, Carrara F & Altermatt F. Emerging predictable features of replicated biological invasion fronts. Proceedings of the National Academy of Sciences, DOI:10.1073/pnas.1321167110.http://www.pnas.org/content/111/1/297.full.pdf+html