News
Fasern machen chaotische Turbulenzen berechenbarer
17. September 2021 |
Turbulenzen gehören zu den wichtigsten und gleichzeitig zu den am wenigsten verstandenen Phänomenen der Natur. Vom Wetter über die Strömungsverhältnisse in Gewässern und in industriellen Chemie- oder Biologiereaktoren bis hin zum Blutkreislauf: Überall, wo sich Flüssigkeiten und Gase bewegen, bestimmen Hierarchien von Wirbeln, wie sich die Energie ausbreitet und lokal auswirkt. Die Grenzen der heutigen Vorhersagemodelle werden zu einem grossen Teil durch das begrenzte Verständnis der Turbulenzen und ihrer Zusammenhänge gesetzt.
Forschende der ETH Zürich, der Eawag und der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL haben zusammen mit Partnern anderer Hochschulen jetzt ein neuartiges experimentelles Verfahren entwickelt, um die Energien von Wirbeln in Flüssigkeiten über die ganze Skalenbreite von wenigen Millimetern bis zu hunderten von Metern viel genauer und vor allem auch einfacher zu erfassen. Die Methode macht den Weg frei für wesentlich bessere Vorhersagen und hat das Potenzial mitzuhelfen, unser Verständnis der chaotischen Bewegungen auf eine nächste Stufe zu heben.
Kleine Änderung, grosse Wirkung
Markus Holzner und Stefano Brizzolara von der Gruppe für Umweltströmungsmechanik - einer gemeinsamen, interdisziplinären Forschungseinheit der Eawag und der WSL - haben dafür das Problem der Turbulenzen-Messung mit einem vollständig neuen Ansatz angegangen. Während die bisherigen Verfahren die Bewegungen von kugelförmigen Markierungsteilchen verfolgen, erfassen sie die Bewegungen der Enden von starren Fasern, die in der Flüssigkeit schweben. Was als kleine Änderung des experimentellen Setups erscheint, hat enorme Auswirkungen auf den Messaufwand und auf die Genauigkeit.
Faser-Enden liefern statistisch notwendige Daten
Der grosse Unterschied: Die Rotationen der Enden einer einzelnen Faser liefern die gesamten statistischen Daten, die für die Charakterisierung einer Wirbelbewegung und von deren Energie notwendig sind. Bisher mussten die Forschenden dafür jeweils viele und vor allem auch laufend noch mehr Markierungsteilchen einsetzen. Schwebende Kugeln verteilen sich nämlich automatisch in einer Flüssigkeit und ihr mittlerer Abstand vergrössert sich infolge der turbulenten Diffusion schnell.
In Laborsettings, in denen die Forschenden die Teilchenbewegung in transparenten und mit Wasser gefüllten Messkästen dreidimensional erfassen, bringt eine immer grösser werdende Zahl der Messteilchen aber die Kameraerfassung an ihre prinzipiellen Grenzen. Bei über 10'000 Teilchen verdecken sich diese zu oft gegenseitig. Die Auflösung der Messungen lässt sich darum nicht mehr steigern.
Bei der Analyse von Strömungen und Wirbeln in der offenen See bedeutet eine grosse Anzahl und das dauernde Ersetzen von Tracer-Bojen, wie dies auf Grund des laufenden Wegdriftens der Bojen mit der herkömmlichen Methode nötig ist, nicht nur hohe Materialkosten. Auch der Zeitaufwand wächst entsprechend, wie Holzner erklärt. Werden die Bojen aber über Kabel quasi zu riesigen Fasern verbunden, können sie nicht mehr voneinander weg driften.
Starre Faser rotiert gleich wie die Flüssigkeit
Um die Praxisrelevanz des Prinzips zu belegen, haben die Forschenden ihr System intensiv experimentell ausgetestet. Dafür verwendeten sie ein 3D-Partikel-Geschwindigkeitsmesssystem, wie es auch für die Analysen mit kugelförmigen Teilchen verwendet wird. So konnten sie unter anderem zeigen, dass starre Fasern genauso gute Resultate liefern wie flexible.
Der Berechnungsaufwand ist bei einer festen Geometrie allerdings wesentlich kleiner. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass die feste Faser immer in der Geschwindigkeit des Wirbels rotiert, denn die Viskosität verhindert, dass die Flüssigkeit über eine feste Faser hinweggleiten kann. Demgegenüber rotieren flexible Fasern nicht nur mit der Strudelbewegung der Flüssigkeit, sondern sie verbiegen sich auch noch und schwingen mit einer ähnlich grossen Frequenz.
Von Gezeiten bis zu Herzklappen
Ein grosser Vorteil der Faser-Messmethode liegt, laut Holzner, in ihrer ausserordentlichen Übertragbarkeit auf alle für Wirbelphänomene relevanten Grössenverhältnisse von wenigen Millimetern bis zu mehreren hundert Metern. Um beispielsweise Strudel im Meer zu analysieren, kann die Faser aus zwei GPS-bestückten Bojen gestaltet werden, welche die Enden markieren und die über ein rund hundert Meter langes Kabel verbunden sind. Aus den Messungen der Bojenbewegungen lassen sich dann beispielsweise Vorhersagen über die Ausbreitung von Verschmutzungen mit Öl oder Plastikabfällen berechnen.
Am anderen Ende der Skala steht das Verständnis von Wirbelbildungen bei Herzklappen, die eine Ursache für gesundheitliche Probleme sein können. Hier kann beispielsweise in Silikonmodellen mit Fasern im Millimeterbereich experimentiert werden.
Die Türen zu neuen Erkenntnissen
Bei ersten Präsentationen der Forschungsarbeiten auf wissenschaftlichen Kongressen hat Brizzolara festgestellt, dass die Faser-Methode auch andere Forschende inspiriert. Jemand will das System an ein physikalisches Grossmodell für Gezeitensimulationen anpassen und andere planen Versuche mit spezifischen Anordnungen von mehreren Fasern.
«Neue experimentelle Methoden öffnen in der Wissenschaft immer auch Türen zu neuen Erkenntnissen», wie der Forscher aus Erfahrung weiss. Die neue Messmethode für Turbulenzen hat das Potenzial, die prinzipiell chaotischen Strömungs-Systeme ein gutes Stück berechenbarer zu machen und dadurch unter anderem auch bessere Vorhersagemodelle zu ermöglichen.
Im bisherigen Labor-Setup mussten die Bewegungen von tausenden von kugelförmigen Teilchen verfolgt werden, die sich häufig gegenseitig verdeckten.
(Bild: Holzner Lab / Environmental Fluid Mechanics – EFM)
Credits Titelbild: iStock
Originalpublikation
Brizzolara S, Rosti ME, Olivieri S, Brandt L, Holzner M, Mazzino A. Fiber Tracking Velocimetry for Two-Point Statistics of Turbulence. Physical Review, DOI: 10.1103/PhysRevX.11.031060
https://doi.org/10.1103/PhysRevX.11.031060
Finanzierung / Kooperationen
- Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
- Universität Genua (Prof. A Mazzino)
- KTH Stockholm (Prof. L Brandt)
- Okinawa Institute of Science and Technology (Prof. M Rosti)