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Vielfalt der Schweizer Flussfische dokumentiert
28. März 2023 |
Gerade mal zwei Zentimeter mass der kleinste Stichling, den die Fischforscherinnen und -forscher im «Progetto Fiumi» inventarisiert haben. 70mal länger, über 140 Zentimeter lang, war dagegen ein Wels aus dem Rhein. Noch riesiger wird die Spanne, wenn man auf die Waage schaut: Den fast 50 Kilogramm des Wels stehen 0,01 Gramm einer Karpfenlarve gegenüber; das entspricht einem Verhältnis von eins zu fünf Millionen. Diese Grössenvielfalt steht sinnbildlich für die enorme Fischvielfalt, die in den Schweizer Flüssen verborgen ist.
Brodersen J., Hellmann J., Seehausen O. (2023). Erhebung der Fischbiodiversität in Schweizer Fliessgewässern – Progetto Fiumi Schlussbericht; Hrsg. Eawag: Swiss Federal Institute of Aquatic Science and Technology. https://doi.org/10.55408/eawag:30020
Fünf Jahre lang haben die Wissenschaftler vom Wasserforschungsinstitut Eawag mit Hilfe von Fischereiaufseherinnen, Fischpächtern, Mitarbeitenden aus Ökobüros und Freiwilligen an 324 Standorten vom Flachland bis auf über 2200 m.ü.M. Flüsse und Bäche in der Schweiz befischt. Mehr als 20'000 Fische von über 50 Arten wurden gefangen, 12'000 DNA-Proben und über 5000 Schuppenproben wurden für weiterführende Untersuchungen archiviert. Sämtliche erhobenen Daten wurden in einer frei zugänglichen Referenzdatenbank gespeichert. Nach dem «Projet Lac» für die Seen ist mit dem «Progetto Fiumi» nun erstmals auch eine Übersicht über einen Grossteil der Fischvielfalt in Schweizer Fliessgewässern entstanden. Heute wurde der Schlussbericht online publiziert (pdf, in Deutsch, mit Zusammenfassungen in Französisch, Italienisch und Englisch).
Elektrobefischung am Glenner. (Foto: Eawag)
In vielen Bächen nur wenige Arten, in wenigen viele
In vielen Bachabschnitten wurden nur wenige Arten registriert, an 158 Standorten sogar nur eine, zumeist die atlantische Bachforelle, Salmo trutta. Nur 16 Standorte waren mit 10 Arten und mehr sehr artenreich. Diese finden sich zumeist an den grösseren Flüssen im Mittelland oder unweit von Seen. Die grösste Artenzahl wurde in grossen Flussstauhaltungen gefunden. Projektleiter Jakob Brodersen ordnet ein: «Das heisst nicht, dass die Lebensräume in gestauten Flüssen besonders wertvoll sind für die Fischdiversität. Denn hier kommen vor allem Arten vor, die in Seen häufig sind. Bedrohte Arten, wie Äschen oder Nasen, die grössere zusammenhängende Flusshabitate mit stärkerer Strömung benötigen, sind hingegen untervertreten oder fehlen ganz.» Überhaupt, so Brodersen, seien die grösseren Gewässer im Flachland nicht nur durch Stauhaltungen, sondern generell besonders stark von künstlichen Eingriffe betroffen und überdies noch kaum untersucht. «Wir sollten daher Wege suchen, wie die wenigen, verbliebenen naturnahen Lebensräume dieser akut gefährdeten Arten besser geschützt werden können», sagt Forscher Brodersen, «der Klimawandel mit hohen Wassertemperaturen und lange anhaltenden Trockenperioden wie 2022 sowie der Druck, möglichst viel Strom aus Wasserkraft zu produzieren, zeigen, wie dringend dieses Anliegen ist.»
Entnahme von Flossen-, Schuppen- und Muskelproben für die Referenzsammlung. (Eawag)
Was nicht bekannt ist, verschwindet unbemerkt
Wozu der ganze Aufwand, kann man fragen. Jakob Brodersens Antwort ist eindeutig: «Wenn die Vielfalt der Natur nicht dokumentiert und verstanden ist, können wir sie nicht effizient schützen. Arten oder regionale Vielfalt verschwinden unbemerkt. Das kann zum Verlust von Leistungen des Ökosystems führen und dann auch den Menschen neue Herausforderungen bringen.» Die Bestimmung der Arten draussen am Fluss genüge dabei nicht. Es brauche Expertinnen und Experten mit vertieften Artkenntnissen und eine Kombination von Bestimmungen über äusserliche Merkmalen und mit genetischen Methoden. Nur so werde es möglich, die Artenvielfalt vollständig zu erfassen und Veränderungen früh zu erkennen.
Denn oft zeige erst die Kombination mit genetischen Analysen, wie sich etwa durch Anpassung an unterschiedliche Lebensräume auch innerhalb einzelner Arten eine grosse Vielfalt entwickelt habe. Als Beispiel nennt der Forscher das Flüsschen Bioleyre im Kanton Waadt. Hier schwimmen im Ober- und im Unterlauf zwei ganz unterschiedliche Forellen. Im mittleren Abschnitt kommen sie sogar zusammen vor, bleiben aber weitestgehend unter sich. Ob das eine Folge einer Spezialisierung auf unterschiedliche Nahrung ist oder andere Gründe hat, muss nun näher untersucht werden.
Forelle ist nicht gleich Forelle, Groppe nicht gleich Groppe
Die fünf Forellen-Linien der Schweiz. A: Salmo rhodanensis (Rhone-Linie); B: Salmo labrax (Donauforelle, Inn und Zuflüsse); C: Salmo marmoratus (Marmorforelle, Südschweiz); D: Salmo cenerinus (Norditalienische Bachforelle, Südschweiz); E: Salmo trutta (Atlantische Forelle).
Wie die kürzlich publizierte Rote Liste der Fische und Rundmäuler, zeigt auch das Progetto Fiumi, wie stark die in der Schweiz bekannten Forellenarten unter Druck stehen. Ausgenommen ist nur die Atlantische Forelle. Ursprünglich nur im Aare/Rhein- und im Genfersee-Einzugsgebiet heimisch, wurde sie an vielen anderen Orten ausgesetzt und ist heute in der ganzen Schweiz verbreitet. Die norditalienische Bachforelle dagegen ist vom Aussterben bedroht.
Während die Forellenarten aus fünf verschiedenen evolutionären Linien schon bekannt waren, haben die Forschenden im Progetto Fiumi auch in anderen Gattungen, wie bei den Groppen, Schmerlen und Elritzen, mehr Arten gefunden, als sie erwartet haben. Deren exakte Klassifizierung wird allerdings noch Zeit in Anspruch nehmen.
Magere Fische in Restwasserstrecken
In Restwasserstrecken gefischte Forellen waren leichter als ihre Artgenossen
im selben Gewässer weiter flussauf- oder -abwärts. (Grafik Eawag)
Im Rahmen des Progetto Fiumi wurden die Fischbestände und das Vorkommen wirbelloser Wasserorganismen gezielt auch in acht Restwasserstrecken untersucht und mit Gewässerabschnitten ober- und unterhalb der Kraftwerke verglichen: In den Restwasserstrecken kamen sensible Kleintiere – wie Eintags-, Stein- und Köcherfliegen – in geringeren Dichten vor. Die Zahl der Forellen unterschied sich dagegen nicht systematisch. Aber die in Restwasserstrecken gefischten Forellen waren bezogen auf ihre Körperlänge leichter, die Fische also magerer.
Titelbild: Alet (Squalius cephalus), auch Döbel genannt, auf ihrem Laichgrund in der Trême, einem Nebenfluss der Saane, Kanton Fribourg, Schweiz. (Foto: Michel Roggo)
Originalpublikation
Brodersen J., Hellmann J., Seehausen O. (2023). Erhebung der Fischbiodiversität in Schweizer Fliessgewässern – Progetto Fiumi Schlussbericht; Hrsg. Eawag: Swiss Federal Institute of Aquatic Science and Technology. https://doi.org/10.55408/eawag:30020 (pdf, 356p; 126MB)
Download nur Bericht ohne die Faktenblätter zu den befischten Standorten (pdf, 48 S.; 16MB)
Ausführlicher Fachartikel «Progetto Fiumi» in der Zeitschrift Aqua&Gas Nr. 4/2023. (online und als PDF-Datei)
Finanzierung / Kooperationen
- Eawag, BAFU – siehe im Bericht S. 82/83 zu Finanzierung und Dank