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Zwei Seen, sieben Felchenarten

12. November 2020 | Sibylle Hunziker, Andri Bryner

Im Fachjournal ZooKeys beschreibt ein Team des Wasserforschungsinstituts Eawag und der Universität Bern sieben endemische Felchenarten der Berner Oberländer Seen – vier davon wurden vorher noch nicht wissenschaftlich beschrieben, zwei erst in den letzten Jahren als eigenständige Arten erkannt. Eine Felchenvielfalt wie in Thuner- und Brienzersee gibt es in der Schweiz sonst höchstens noch im Vierwaldstättersee; und gerade bei solch tiefen Seen sind weitere Überraschungen nicht auszuschliessen.

Ausblick auf Thuner- (links) und Brienzersee (Foto: Carmela Dönz)

Als der Biologe Paul Steinmann in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Felchen der Schweiz dokumentierte, kam er auf 35 verschiedene «Formen» – in jedem grösseren See mindestens zwei. Unterdessen weiss man, dass es sich bei diesen «Formen» nicht nur um Ökotypen mit unterschiedlichen Anpassungen an die Umwelt handelt, sondern um echte Arten, deren genetische und ökologische Differenzierung durch Hybridisierung ganz oder teilweise verschwinden kann, wenn sich die Lebensräume verändern. Eine solche Veränderung war die Verschmutzung und Überdüngung der Schweizer Seen nach der Mitte des letzten Jahrhunderts. Sie führte dazu, dass ein Drittel der historisch bekannten Felchenarten ausstarb, bzw. durch Hybridisierung mit anderen Felchenarten genetisch verschmolz. Diese Arten mit ihren spezifischen Umweltanpassungen sind unwiederbringlich verloren; denn alle Felchenarten der Schweiz sind endemisch, das heisst, sie kommen nirgendwo anders vor als in den Seen, in denen sie entstanden sind.
 

Schnelle Artbildung
In allen grösseren Alpenrandseen sind nach der letzten Eiszeit zwei oder mehr Felchenarten entstanden. Eine wichtige Voraussetzung für diese «schnelle Artbildung» (wissenschaftlich: Radiation) entstand schon vor der Besiedelung dieser Seen: Durch die Hybridisierung zweier sehr alter Felchen-Abstammungslinien bekamen die Nachkommen vielfältige Erbanlagen mit. Daraus konnten sich in den abwechslungsreichen Lebensräumen, welche die Felchen in den tiefen Seen vorfanden, unterschiedlichste Spezialisierungen entwickeln. Und indem sich die Felchen zunehmend auf unterschiedliche Nahrung, Laichplätze und Laichzeiten spezialisierten, nutzten sie die Ressourcen so, dass viele Arten entstehen und koexistieren konnten.

Artenreiche Berner Oberländer Seen

Von den ursprünglich besonders artenreichen Seen waren der Vierwaldstättersee und die Berner Oberländer Seen weniger stark von der Eutrophierung betroffen. Mit sechs, respektive sieben bekannten Arten gehören sie heute noch zu den Seen mit dem grössten Felchenartenreichtum weltweit.

Von den Berner Oberländer Arten sind mindestens sechs nach dem Ende der letzten Eiszeit vor 12000 Jahren entstanden. Die Herkunft der siebten ist kompliziert. Denn diese Art hat eine Hybridisierungs-Vergangenheit mit Felchen aus dem Bodensee, die durch Besatz im 20. Jahrhundert in Thuner- und Brienzersee gelangt sind.
Alle sieben Arten wurden jetzt von Oliver Selz und einem Team um den Evolutions- und Fischbiologen Ole Seehausen am Wasserforschungsinstitut Eawag und dem Berner Institut für Ökologie und Evolution wissenschaftlich beschrieben – vier davon zum ersten Mal überhaupt.
 

Die sieben Felchenarten aus Brienzer- und Thunersee. (Fotos: Eawag)

Vier Erstbeschreibungen

Ältere wissenschaftliche Beschreibungen gab es für den Brienzlig (Coregonus albellus), den Balchen (Coregonus alpinus) und den Felchen (Coregonus fatioi). Brienzlig und Balchen – die kleinste und die grösste Art – waren schon 1885 vom Genfer Zoologen Victor Fatio beschrieben worden. Alle drei Arten kommen sowohl im Thuner- als auch im Brienzersse vor.

Der Kropfer, ein Tiefenfelchen des Thunersees, hiess gemäss Kottelats Handbuch für die europäischen Süsswasserfische während der letzten 20 Jahren Coregonus alpinus. Die Beschreibung im Handbuch passt zwar zum Kropfer; allerdings bezog sich das Buch eindeutig auf ein Fischpräparat aus dem Naturhistorischen Museum in Genf, das Fatio als Balchen beschrieben hatte. Deshalb haben die Biologen den Namen Coregonus alpinus nun wieder dem Balchen zurückgegeben, der schon bei Fatio 1885 so hiess. Der Kropfer wurde neu beschrieben und Coregonus profundus getauft.
Erst 2018 entdeckten die Forschenden eine Art, die sie wegen ihrer Ähnlichkeit mit dem Balchen provisorisch «Balchen2» nannten. Zu Ehren des Felchenforschers Paul Steinmann erhielt diese Art im Thunersee nun den wissenschaftlichen Namen Coregonus steinmanni. Die weiteren Arbeiten zeigten, dass es sich bei dem zunächst auch als Balchen2 bezeichneten Felchen im Brienzersee um eine separate Art handelt. Als einzige endemische Art des Brienzersees wurde sie Coregonus brienzii getauft.
 

Paul Steinmann (1885-1953) – Forscher, Lehrer, Gutachter, Fischereipräsident
Sein Studium in Basel und München schloss der Zoologe Paul Steinmann 1907 bei Friedrich Zschokke mit einer Dissertation über «die Tierwelt der Gebirgsbäche» ab. Nach Studienaufenthalten in Neapel und Triest und einer kurzen Zeit als Privatdozent an der Universität Basel wurde Steinmann 1911 als Lehrer für Naturgeschichte an die Kantonsschule Aarau gewählt – ein Amt, dem der engagierte Lehrer bis zu seiner Pensionierung 1953 treu blieb. 1923-28 war der Mitgründer und Direktor des Museums für Natur- und Heimatkunde Aarau Präsident der Aargauischen Naturforschenden Gesellschaft. Als Präsident des Schweizerischen Fischereivereins (heute Schweizerischer Fischereiverband SFV) und Redaktor der Schweizerischen Fischerei-Zeitung, als international anerkannter Forscher und Gutachter setzte sich Steinmann schon früh für den Gewässerschutz und für Rücksicht auf die Lebensräume von Fischen im Wasserbau ein. Steinmanns umfangreiche Fischsammlung, die als Schenkung an die Eawag ging, wird heute im Naturhistorischen Museum Bern kuratiert, von der Forschung rege genutzt und im Rahmen einer neuen Ausstellung der Öffentlichkeit präsentiert. Steinmanns «Monographie der Schweizer Koregonen» ist auch einige Generationen nach der Publikation von 1950 ein Referenzwerk für die Erforschung der Felchenvielfalt in den Alpenrandseen. Seit der ZooKeys-Publikation von dieser Woche trägt nun die 2018 entdeckte Berner Oberländer Felchenart Coregonus steinmanni Paul Steinmanns Namen. Literatur: Historisches Lexikon der Schweiz und Würdigung in den Mitteilungen der aargauischen Naturforschenden Gesellschaft Band 25 (1958), S. 224-228.

Alter Name, neuer Fisch

Ebenfalls erstmals wissenschaftlich beschrieben wurde der Albock (Coregonus acrinasus). Die umgangssprachliche Bezeichnung Albock ist zwar seit dem Mittelalter dokumentiert. Alte Urkunden, Rechnungen und Fischereigesetze verwenden sie für die grösseren Felchen aus dem Thunersee, von denen viele regelmässig in die Aare wanderten und dort in Massen gefangen wurden. «Was aus dieser Art wurde, ist nicht abschliessend geklärt», sagt Erstautor Oliver Selz. Präparate von solchen Wanderalböcken aus dem 19. Jahrhundert ähneln morphologisch am ehesten dem heutigen Felchen (C.fatioi).

Die heutigen spitznasigen 'Alböcke', die erst seit dem späten 20. Jahrhundert vermehrt in den Fängen der Oberländer Fischer auftauchen, haben eine junge Hybridisierungs-Vergangenheit: Sie weisen eine nahe genetische Verwandtschaft sowohl mit Felchen des Bodensees auf, die im 20. Jahrhundert in den Oberländer Seen eingesetzt wurden, als auch mit den anderen Thunerseefelchen. Warum der Besatz nur im Thuner-, nicht aber im Brienzersee Spuren hinterliess, und zu welcher Art der frühere Albock gezählt werden sollte, sind offene Fragen für künftige Forschungsprojekte. Weitere Überraschungen aus den Tiefen der Oberländer Seen schliessen die Biologen nicht aus.
 

Titelbild: Verena Kälin

Originalartikel

Selz, O. M.; Dönz, C. J.; Vonlanthen, P.; Seehausen, O. (2020) A taxonomic revision of the whitefish of lakes Brienz and Thun, Switzerland, with descriptions of four new species (Teleostei, Coregonidae), ZooKeys, 989, 79-162, doi:10.3897/zookeys.989.32822, Institutional Repository

Umfangreiche Beschreibung
Für die neuen wissenschaftlichen Beschreibungen verwendeten die Biologen sowohl neue als auch historische Fischpräparate. Die «neuen» Fische kamen zum Teil aus den Fängen von Berufsfischern. Der Grossteil wurde im Rahmen der Projekte gefangen, welche die Eawag und die Universität Bern in den letzten Jahren durchführten; so stammen einzelne Präparate aus dem Projet Lac, die meisten aus einer umfangreichen Befischung eines Tiefengradienten auf den Laichplätzen während der gesamten Laichzeit der verschiedenen Arten.  Diese Präparate verglichen die Fischbiologen mit bis zu 150jährigen Exemplaren aus dem Naturhistorischen Museum Genf und aus der Eawag-Sammlung von Paul Steinmann, die seit kurzem vom Naturhistorischen Museum Bern kuratiert wird. Beschrieben wurden morphologische Merkmale – zum Beispiel die Anzahl und Form der Kiemenreusen, die viel über die Nahrung einer Fischart aussagt. Zur Beschreibung gehören weiter die Resultate der genetischen Untersuchungen und Angaben zur Ökologie der Fische, insbesondere zu ihrem Fress- und Laichverhalten
Die Eawag revidiert gegenwärtig im Auftrag des Bundesamtes für Umwelt BAFU die Taxonomie der Felchen in der Schweiz. Nach der wissenschaftlichen Publikation zu den Berner Oberländer Felchen folgen in nächster Zeit weitere zu Vierwaldstätter-, Zuger-, Sempacher- und Sarnersee.

Vermessen, wägen, fotografieren, beschreiben – im Rahmen des «Projet Lac» wurden die Fische der Schweizer Seen erstmals systematisch inventarisiert. 
(Foto: Eawag, Stefan Kubli)

Zu Ehren des Felchenforschers Paul Steinmann gaben die Forschenden dem 2018 im Thunersee entdeckten «Balchen2» nun den wissenschaftlichen Namen Coregonus steinmanni. (Foto : Eawag)