Abteilung Umweltsozialwissenschaften

SHIVAGO

 

Wirtschaftswachstum basiert seit langer Zeit auf neuen Technologien, welche mit stetig ansteigenden Emissionen von Treibhausgasen und Schadstoffen in die Umwelt verbunden sind. Zunehmend setzt sich jedoch die Erkenntnis durch, dass eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung eine Neuorientierung der Innovation hin zu umweltfreundlichen Technologien und Produkten erfordert. In dieser sich neuformierenden und normativ orientierten Perspektive auf Innovationen rücken gesellschaftliche Werte wie Umweltschutz, Gesundheit, Datenschutz und Gerechtigkeit zunehmend in den Fokus. Damit verschiebt sich der Innovationsanspruch vom puren technischen Fortschritt und wirtschaftlicher Rentabilität hin zu einem breiteren Verständnis von gesellschaftlichem Mehrwert, den Innovationen schaffen können.  

Da diese neuen Wertvorstellungen zu einer treibenden Kraft für Innovationen geworden sind, ist es wichtig zu verstehen, wie sich in diesem Zusammenhang innovative Aktivitäten auf spezifische Probleme konzentrieren, während andere eventuell ausgeblendet werden. Zudem ist hierbei von besonderer Bedeutung nähere Einblicke darin zu gelangen, wie institutionelle Rahmenbedingungen die Entstehung und Verbreitung grüner Produkte und Technologien fördern oder behindern können.  

Das SHIVAGO-Projekt untersucht, wie Valuierungsprozesse die Dynamik von Branchen und sektoralen Übergängen im Hinblick auf große gesellschaftliche Herausforderungen beeinflussen. Valuierung beschreibt im Kern soziale Prozesse, die (neue) Technologien, Produkte oder Dienstleistungen in Beziehung zu gesellschaftlichen Werten setzen, die in normativen, regulatorischen und kognitiven Institutionen verankert sind. Diese Prozesse prägen, welche Technologien von innovativen Akteuren priorisiert, welche Produktqualitäten bei der Konstruktion neuer Märkte hervorgehoben und welche Eigenschaften von Nutzern und anderen Akteuren geschätzt werden. Valuierung erfolgt häufig anhand konkreter Instrumente wie beispielsweise Energieeffizienzklassen bei Haushaltsgeräten, die aufzeigen, inwieweit bestimmte Produkte und Technologien mit gesellschaftlichen Werten übereinstimmen.  

Aufbauend auf Erkenntnissen aus der Innovationsforschung und der Wirtschaftssoziologie setzt sich SHIVAGO zum Ziel, zu verstehen, wie wertorientierte Innovation stattfindet und wie neue institutionelle Strukturen, die eine neuartige Bewertung von Technologien ermöglichen, aufgebaut werden. Empirisch konzentriert sich das Projekt auf zwei Sektoren, die sich einem immer komplexer werdenden Geflecht aus unterschiedlichen Wertvorstellungen gegenüber sehen: Die chemische Industrie und der Abwassersektor.

Chemieindustrie und chemie-basierte Produktsektoren

Die chemische Industrie und verwandte chemiebasierte Sektoren wie Lebensmittelverpackungen und Outdoor-Bekleidung stehen zunehmend wegen der Gesundheits- und Umweltrisiken ihrer Produkte in der Kritik. Besonders der Einsatz gefährlicher Chemikalien wird hierbei infrage gestellt. Regulierung stellt in vielen Sektoren weiterhin das primäre Mittel dar, um diesen Risiken zu begegnen. Allerdings greifen gesetzliche Vorgaben oft erst, wenn die Produkte bereits auf dem Markt sind, was dazu führt, dass nachträgliche Maßnahmen wie End-of-Pipe-Technologien oder "Regrettable Substitutions” die Wirksamkeit dieser Vorschriften untergraben. Ein prominentes Beispiel ist die Substitution von Bisphenol A in Lebensmittelverpackungen durch Bisphenol S und F, die ähnliche gesundheitliche Bedenken aufwerfen. Die Regulierung dieser Substanzen wird daher als zu langsam und ineffektiv kritisiert, um einen bedeutenden Wandel hin zu umwelt- und gesundheitsfreundlicheren Produkten zu bewirken. Das SHIVAGO-Projekt untersucht in diesem Kontext, wie Prinzipien der sicheren und nachhaltigen Chemie frühzeitig in den Innovationsprozess integriert werden können, um effektivere und nachhaltigere Lösungen zu entwickeln. 

Abwassersektor

Obwohl es zahlreiche fortschrittliche Technologien zur Abwasserbehandlung gibt, kann ein nachhaltiger Umgang mit Abwasser in vielen Regionen der Welt noch nicht als Standard angesehen werden. Angesichts des durch den Klimawandel wachsenden Wasserstresses und des öffentlichen Drucks auf Abwassereinleiter setzen Städte und Industrien jedoch zunehmend auf kreislauforientierte Wassersysteme. Die Umstellung von traditionellen, linearen Wassersystemen hin zu zirkulären Lösungen ist jedoch komplex und stößt auf rechtliche und kulturelle Hürden. Neue Instrumente zur Valuierung, wie Qualitätsstandards für die Wiederverwendung von Abwasser, könnten dabei helfen, dieses als wertvolle Ressource neu zu definieren. Ziel des Projekts ist es in diesem Kontext, Mechanismen zu identifizieren, die die Entstehung und Verbreitung innovativer Technologien der Abwasserwiederverwendung fördern und neue institutionelle Strukturen schaffen, die es den Akteuren ermöglichen, Abwasser neue Werte zuzuschreiben.

Die Chemieindustrie ist ein komplexer Wirtschaftszweig mit weitreichenden Verbindungen zu zahlreichen globalen Wirtschaftssektoren. Dies macht die Chemieindustrie besonders widerstandsfähig gegenüber Transformationsbemühungen hin zu einer nachhaltigeren und sicheren Chemie, die auf neu entstehende Wertvorstellungen reagieren. Aufgrund der Vielzahl an Chemikalien und Produkten ist es unwahrscheinlich, dass allein regulatorische Maßnahmen ausreichenden Schutz für Umwelt und Gesundheit bieten. Daher ist es hier entscheidend, Wertbelange frühzeitig im Innovationsprozess zu berücksichtigen. Der Abwassersektor hingegen operiert primär auf lokaler Ebene. Trotz der zunehmenden Standardisierung von Technologien zur Abwasseraufbereitung sind die Valuierungsprozess stark in lokale kulturelle und sozioökonomische Kontexte eingebettet. In diesem Bereich untersucht das SHIVAGO-Projekt die Entstehung neuer institutioneller Strukturen, die es den Akteuren ermöglichen, den Wert von Abwasser als Ressource neu zu bewerten und die Technologien entsprechend anzupassen. Mit der Analyse dieser unterschiedlichen Sektoren setzt sich SHIVAGO zum Ziel, unser Verständnis davon zu verbessern, wie Innovationsprozesse in ihrem institutionellen Umfeld verankert sind und wie das Zusammenspiel die Richtung von sektoralen Transformationsprozessen beeinflussen. 

Team

Prof. Dr. Bernhard Truffer Gruppenleiter, Gruppe: Cirus Tel. +41 58 765 5670 E-Mail senden
Muhil Nesi PhD student, Group: Cirus Tel. +41 58 765 5905 E-Mail senden
Maximilian Hoos Doktorand, Gruppe: Cirus Tel. +41 58 765 5481 E-Mail senden