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Grosser Genpool erleichtert Invasion
2. März 2021 |
Historisch belegt ist in der Schweiz nördlich der Alpen vor 1900 nur ein Stichlingsbestand bei Basel. Im frühen 20. Jahrhundert befürchtete der Biologe Paul Steinmann sogar, die Art könnte ganz verschwinden, da die farbenfrohen Fischchen seit dem ersten Aquarienboom in Europa in Massen gefangen und als Haustiere gehandelt wurden. Heute kommen Stichlinge in vielen Schweizer Bächen und in den meisten grossen Seen vor.
Einmalige Vielfalt
Doch während es im Genfersee nur während der Eutrophierungsphase vor dem Bau der Kläranlagen zu Massenvermehrungen kam und die Bestände heute – ähnlich wie in den Jurarandseen – relativ unauffällig im Uferbereich und einigen Zuflüssen leben, sind die Stichlinge im Bodensee in den letzten Jahren invasiv geworden. Seit 2013 verfangen sich die Winzlinge mit ihren Rückenstacheln massenhaft in den Netzen der Berufsfischer. Und sie haben fast alle Lebensräume besetzt: Neben Populationen, die ausschliesslich in Bächen oder in den Uferzonen des Sees leben, gibt es auch solche im offenen Wasser, wo sie zuletzt bis in 47 Meter Tiefe gefunden wurden. Und einige Bestände wandern vom See in die Bäche, wo sie gleichzeitig mit den Bachstichlingen laichen, trotzdem aber genetisch differenziert bleiben.
«Weltweit kennt die Stichlingsforschung in vielen Regionen Ökotypen für Bäche und Seen», sagt Cameron Hudson, Evolutions- und Fischbiologe am Schweizer Wasserforschungsinstitut Eawag. Dass sich die kleinen Fische in einem See voll grosser Prädatoren ins offene Wasser vorwagen, hörte man früher hingegen erst vereinzelt von invasiven Stichlingen in den Great Lakes in Nordamerika. Und bisher nur bei Bodensee-Stichlingen wurde eine Laichwanderung vom See in seine Zuflüsse beobachtet, auch wenn es in Europa, Nordamerika und Asien Arten gibt, die zwischen Meer und Süsswasser wandern.
So unterschiedlich können Stichlinge im Bodensee sein. Beides sind adulte Weibchen. Oben eines aus dem freien Wasser im See, unten eines aus einem kleinen Zufluss.
(Eawag, Cameron Hudson)
Systeme unter Stress
Doch wie kam es zu dieser einmaligen Entwicklung? «Der Bodensee ist ein komplexes, dynamisches System», sagt Cameron Hudson und erinnert an schnelle Veränderungen in der Nährstoffzufuhr, Klimawandel und viele neue, zum Teil invasiven Organismen wie Kaulbarsche oder Zebra- und Quaggamuscheln. Ähnlichen Veränderungen sind allerdings auch die Ökosysteme in Seen ausgesetzt, in denen Stichlinge nicht invasiv geworden sind.
In einer Übersichtsstudie, die bei Frontiers in Ecology and Evolution frei zugänglich ist, erklären Hudson und seine Mitautoren von der Eawag und den Universitäten Bern und Basel die spezielle Entwicklung im Bodensee mit dem Erbgut der Stichlinge und begründen ihre Erklärung mit historischen, genetischen, morphologischen und ökologischen Daten.
Die baltische Spur
Weltweit haben Stichlinge aus dem Meer im Laufe der Jahrmillionen immer wieder Süsswasser-Seen und Flüsse besiedelt. Relativ jung sind Populationen im Rhein und anderen europäischen Flüssen, in die Fische erst nach der letzten Eiszeit einwanderten. Doch die Stichlinge in den Schweizer Seen sind Nachkommen von Aquariumfischen, die im 19. Jahrhundert wiederholt freigesetzt wurden und zum Teil aus ursprünglich weit entfernten Beständen stammten. Im Genfersee und den Jurarandseen etablierten sich so vor allem Stichlinge aus der Rhone. In der Ostschweiz und Süddeutschland wurden Stichlinge zunächst in den Bodenseezuflüssen dokumentiert, später auch im See. Während der Eutrophierung ab den 1960er Jahren kam es dort zu Massenvermehrungen, aber auch schnellen Bestandeseinbrüchen.
2019 publizierte Untersuchungen der Eawag zeigen, dass das Erbgut dieser Bodensee-Stichlinge aus drei Linien stammt: Vom Rhein, von der Rhone und – anders als in der übrigen Schweiz – vorwiegend von einer osteuropäischen Linie, die erst nach der letzten Eiszeit von der Ostsee her polnische und baltische Flüsse besiedelt hat.
(A) Einheimisches Exemplar mit wenigen Platten, das zur westeuropäischen Linie gehört (Basel, 1935);
(B) voll plattiertes Exemplar von 1963 aus dem Bodensee bei Langenargen, Deutschland;
(C) grosses, voll plattiertes pelagisches Weibchen, das während der Projet Lac-Untersuchung 2014 aus dem Bodensee bei Meersburg, Deutschland, gefangen wurde.
Einmalig anpassungsfähig
Diesen einzigartigen Genpool nutzten die Bodenseestichlinge für Anpassungen an verschiedenste Lebensräume. So haben die osteuropäischen Stichlinge und ihre Nachkommen im Bodensee im Unterschied zu anderen Süsswasser-Stichlingen weder ihre Knochenschilde, noch ihre langen Stacheln verloren; damit sind sie besser geschützt vor den zahlreichen fischfressenden Vögeln und Fischen.
Diese «wehrhaften» und auch besonders grossen «Seestichlinge» jagen erfolgreich Copepoden und anderes nahrhaftes Zooplankton, wie Untersuchungen des Mageninhalts von 253 Tieren zeigen; «Bach»- und «Uferstichlinge» ernähren sich hingegen vor allem von Insektenlarven und anderen Wirbellosen, die zwar weniger nahrhaft, aber zuverlässig verfügbar sind. Und schon stellen die Biologen Fixierungen unterschiedlicher Spezialisierungen im Erbgut fest – die Anfänge der Entstehung neuer Arten.
Genetische Untersuchungen an fast 1600 Stichlingen aus der Schweiz fördern die Unterschiede der Populationen in den verschiedenen Seen zutage: Stark vereinfacht gesagt sind gelb die Allele für niedrig plattierte und blau die für voll plattierte Exemplare. Grün sind Mischformen. Details finden sich in der Originalstudie und Tabelle 2 in den den Zusatzmaterialien (nach Lucek et al. 2010).
Wie werden Arten invasiv?
Die Studie zeigt, wo weiter geforscht werden muss. So braucht es zum Beispiel weitere Mageninhaltsanalysen zu unterschiedlichen Jahreszeiten. Offen ist auch die Frage, ob Parasiten oder Prädatoren wie Kormorane, Seeforellen oder Eglis mit der Zeit eine Bestandeskontrolle aufbauen.
Vor allem wird nun beobachtet, ob die Stichlinge in anderen Schweizer Seen auch invasiv werden; denn das Erbgut der Bodenseestichlinge breitet sich derzeit weiter Richtung Westen aus, wie Eawag-Forscher schon vor einigen Jahren belegten. Diese Aussichten machen Cameron Hudson aus ökologischer Sicht Sorgen. «Aber es ist auch eine einmalige Gelegenheit, solche Vorgänge zu beobachten und besser zu verstehen, was Arten invasiv werden lässt», sagt er.
Lateinische Beschreibung des drei- und des neunstachligen Stichlings in Guillaume Rondelet’s Ausgabe “De Piscibus” von 1554.
Übersetzung: In Flüssen und Seen kann man einen kleinen Fisch finden, der nach seinen spitzen Stacheln benannt ist. Es scheint zwei Arten zu geben: Die erste ist grösser, auf dem Rücken durch nur drei Stacheln geschützt, drei am Bauch, verbunden, wie man sie auf einem Amaranth-Samen sieht, den die Franzosen Espinar [viroflay spinat] nennen, was der Grund ist, warum der kleine Fisch Epinoche oder Epinarde genannt wird, in Deutschland der Stachelfisch und in Italien der Stratzarigla. Die spitzen und starken Stacheln werden bei Alarm aufgerichtet, zum Beispiel um sich vor Verletzungen zu schützen. Abgesehen von den Stacheln ähneln sie einem kleinen, schuppenlosen Barsch. In Flüssen und Seen sind sie manchmal so zahlreich, dass viele glauben, sie seien der Ursprung aller anderen Fische, oder zumindest deren Beute. Wenn Teiche geleert oder ausgetrocknet werden, bleiben viele dieser Fische übrig, die von armen Leuten gesammelt werden. Die andere Art hat sechs (neun) Stacheln auf dem Rücken. Ich habe diesen kleinen Fisch im Fluss Nar gesehen, bevor er in den Tiber mündet. Die Einheimischen essen den Fisch dort. Diejenigen, die sagen, dass Stichlinge eine Art der Galeorum [Katzenhaie] sind, irren sich. Was können diese kleinen Fische und die [Katzenhaie] gemeinsam haben?
Titelbild: Eawag
Originalartikel
SeeWandel
Seit 2005 untersuchen die Abteilungen für Fischökologie und Evolution der Eawag und der Universität Bern Stichlinge im Bodensee. Die aktuelle Studie wurde vom Projekt „SeeWandel“ mitfinanziert. Das interdisziplinäre Projekt von sieben Forschungseinrichtungen aus Deutschland, Österreich, Liechtenstein, und der Schweiz untersucht den Einfluss von Nährstoffrückgang, Klimawandel und gebietsfremden Organismen auf das Ökosystem Bodensee. In der Stichlingsstudie diskutiert ein Team aus Gewässerökologen, Fisch- und Evolutionsbiologen den Stand der Forschung über Stichlinge im Bodensee vor dem Hintergrund der internationalen Forschung. Es werden bis zu 500 Jahre alte Quellen einbezogen, die ein gutes Bild über die historische Verbreitung der verschiedenen Stichlingstypen in Süsswasserseen und Fliessgewässern West- und Mitteleuropas geben. Die Studie bietet einen Überblick für alle, die sich mit der Ausbreitung von Stichlingen in Schweizer Seen beschäftigen, und sie leistet einen Beitrag zur Forschung über invasive Organismen. >> www.seewandel.org